Nach Vorwurf der Freiheitsberaubung: Asylbewerber trug bei Abschiebung Rasierklingenstück im Mund

Kreis Lippe. Nach der angeblichen Freiheitsberaubung einer Flüchtlingshelferin in der Ausländerbehörde ist es mit deren russischen Klienten zu einem Zwischenfall bei der Abschiebung gekommen. Der Mann hat sich und einen Vertreter der Ausländerbehörde mit dem Teil einer Rasierklinge verletzt. Der Kreis bestätigte entsprechende LZ-Informationen.

Die Kreispolizei hatte die Ausländerbehörde bei der Festnahme des Russen unterstützt. Dann machten sich Vertreter der Zentralen Ausländerbehörde aus Coesfeld mit ihm auf den Weg, um ihn abzuschieben. Was sich dann zugetragen hat, beschreibt der Kreis Lippe so: &bdquo;Als die Abfahrt erfolgen sollte, nahm der Betroffene einen im Mundraum versteckten Teil einer Rasierklinge in die Hand und verletzte sich damit am Hals. Als ein Mitarbeiter der Zentralen Ausländerbehörde Coesfeld ihm die Klinge entnehmen wollte, wurde dieser an der Hand verletzt."

Kreis widerspricht: Mann soll Klinge von Anfang an im Mund gehabt haben Frank Gockel, Sprecher der Flüchtlingshilfe, bestätigte am Donnerstag gegenüber die Sache mit der Rasierklinge. Für die Verletzungen hätten Pflaster gereicht. Nach Informationen der LZ musste der Klient allerdings genäht werden. Ein Arzt hat nach Auskunft des Kreises beide Männer untersucht und Reise- beziehungsweise Diensttauglichkeit festgestellt.

Nach Gockels Darstellung habe sich der Russe aus seinem von den Behördenvertretern für die Abschiebung gepackten Gepäck die Rasierklinge gefischt. Dem widerspricht die Kreisverwaltung vehement: Der Mann habe die Klinge von Anfang an im Mund gehabt, an das Gepäck sei er gar nicht herangekommen. Gockel war für eine Konfrontation mit dieser Aussage nicht mehr zu erreichen.

Ein Akt der Verzweiflung? Der Mann aus Russland sei aus seiner Sicht nicht gewalttätig, sagte Gockel zuvor, er sieht eher einen Akt der Verzweiflung. Das glaubt auch Pfarrer Dieter Bökemeier, Flüchtlingsbeauftragter der Lippischen Landeskirche. Er habe in Gesprächen schon häufiger gehört, dass sich jemand lieber etwas antäte als zurück in sein Ursprungsland zu müssen. An Aggression gegen die Beamten glaube er nicht: &bdquo;Er hat ja niemanden angegriffen, sondern Hand an sich selbst gelegt."

&bdquo;Staatsschutzrelevante Erkenntnisse" hatten zum Zugriff in der Ausländerbehörde geführt. Welche genau, darüber schweigen sich die Behörden weiterhin aus. Aber gab es im Vorfeld Hinweise auf eine mögliche Gewalttätigkeit? – &bdquo;Nein", sagt Frank Gockel. Der Klient sei einmal von seiner damaligen Ehefrau wegen häuslicher Gewalttätigkeit angezeigt worden, die Frau habe jedoch ihre Anzeige wieder zurückgezogen. Bei einer Kontrolle in Berlin habe die Polizei 2016 einmal ein Messer konfisziert, &bdquo;das war aber ein ganz normales Taschenmesser."

"Unglaubwürdig" Ein Kommentar von Marianne Schwarzer

Was hat sich die Flüchtlingshilfe bloß dabei gedacht? Als sie Strafantrag wegen Freiheitsberaubung stellten, war den Akteuren längst der Vorfall mit der Rasierklinge bekannt. Sie müssen gewusst haben, dass dieses Detail ein vollkommen anderes Licht auf den massiven Zugriff mit Polizei und großem Personalaufgebot im Kreishaus werfen würde.

Aus Verzweiflung und Angst soll der Mann aus Russland Hand an sich gelegt haben. Verzweifelte Menschen machen unter Umständen verzweifelte Dinge. Hat die Ausländerbehörde damit gerechnet, waren die Sicherheitsvorkehrungen eine Notwendigkeit.

Nur zu oft wird Behörden Untätigkeit wider besseren Wissens vorgeworfen – wenn wirklich mal was Schlimmes passiert. Vor diesem jetzt erst bekannt gewordenen Hintergrund hat die Flüchtlingshilfe nur der eigenen Glaubwürdigkeit und damit ihren Klienten geschadet.

&bdquo;Verhalten der Flüchtlingshilfe wirft viele Fragen auf" Die Festnahme des russischen Staatsbürgers im Kreishaus und die Vorwürfe der Flüchtlingshilfe, die Mitarbeiterin des Vereins sei widerrechtlich in einem Büro eingesperrt worden, sind aus Sicht der Kreistagsfraktionen vollkommen haltlos. Im Gegenteil: Die Politiker stärken den Mitarbeitern des Ausländeramtes den Rücken. Die Kritik zielt in Richtung Flüchtlingshilfe Lippe. Die Linke hinterfragt allerdings, warum es überhaupt dort so einen Einsatz geben musste.

&bdquo;Wenn der Mann überwacht wurde, hätte man ihn an seinem Wohnort festnehmen müssen. Das Kreishaus ist ein öffentlicher Ort, keine Polizeibehörde", sagt Fritz Ehlert, sachkundiger Bürger der Linken. Das Verfahren sei sehr befremdlich.

&bdquo;Angesichts der Anfeindungen, denen die Mitarbeiter in de Ausländerbehörde ausgesetzt sind, und die ebenso belastend wie demotivierend sind, haben wir hohen Respekt vor dem, was sie jeden Tag leisten", hatte die CDU am Donnerstagvormittag mitgeteilt. &bdquo;Die Mitarbeiter im Ausländeramt fällen ihre Entscheidungen auf der Grundlage geltenden Rechts."

CDU-Fraktionschef kritisiert Informationspolitik des Kreises Fraktionschef Andreas Kasper sah sich am Abend angesichts der aktuellen Entwicklung in dieser Ansicht bestätigt und übt heftige Kritik an der Informationspolitik des Kreises: &bdquo;Ich habe den Eindruck, da wurden bewusst wesentliche Angaben weggelassen. Das zeugt von wenig Transparenz." Die Rasierklinge zeige, dass der Mann &bdquo;nicht ganz ungefährlich" gewesen sei.

&bdquo;Bei allem Verständnis dafür, dass Entscheidungen kritisch hinterfragt werden, müssen Tatsachen und geltendes Recht maßgeblich sein. Wie der Kreis mitteilte, liegen im fraglichen Fall staatsschutzrelevante Erkenntnisse gegen den russischen Staatsbürger vor", erinnert Kasper an die Vorgeschichte.

Schutz der Mitarbeiter hat Vorrang Carsten Möller (FDP) hält es für übertrieben, &bdquo;wie die Flüchtlingshilfe Lippe diese Sache aufgebauscht hat". Dass der Mann eine Rasierklinge bei sich hatte, sei ein Beweis dafür, dass die Maßnahmen durchaus gerechtfertigt gewesen seien. In Bezug auf den Vorwurf der Freiheitsberaubung, den die Flüchtlingshilfe erhoben hatte, weil eine Mitarbeiterin des Vereins in einem Büro von einer Mitarbeiterin des Ausländeramtes eingeschlossen worden sein soll, sagt er: &bdquo;Das war eine gute Schutzmaßnahme."

Henning Welslau (SPD) sieht in dem Vorgang Positives: &bdquo;Es zeigt, dass die Absprachen der Behörden funktioniert haben." Es habe eine Gefährdungsbeurteilung gegeben und einen Plan, wie man die Mitarbeiter am besten schützen kann. &bdquo;Das hat Vorrang."

Ernst-Ulrich Frank von der AfD findet es grundsätzlich richtig, dass Ausreisepflichtige auch abgeschoben werden. Wenn die Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe in diesem Fall kurzfristig eingesperrt worden sein sollte, sei das aus seiner Sicht gerechtfertigt. &bdquo;Es hätte für die Mitarbeiterin des Vereins und auch für die Mitarbeiter des Ausländeramtes gefährlich werden können – und dann?", sagt Frank.

Für Werner Loke (Grüne) wirft das Verhalten der Flüchtlingshilfe angesichts dieses Falls Fragen auf. &bdquo;Wie gefährlich ist das, was die Leute da machen? Wer übernimmt die Verantwortung, wenn etwas passiert?" fragt sich Loke. Im Kreistag habe er vorgeschlagen, einen Arbeitskreis zu gründen, der sich mit besonders sensiblen Fällen befasst. Zwar habe er dies auf den Fall Muntari Adam bezogen, gegen dessen Abschiebung protestiert wird. &bdquo;In diesem Arbeitskreis könnten Informationen auch zu heiklen Fällen im Nachhinein weitergegeben werden. Dann entsteht viel weniger Unruhe", sagt Loke.

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