Bürgergeld: Wird damit alles gerechter?

Detmold. Nach 20 Jahren wandert der Begriff &bdquo;Hartz IV" vielleicht bald in die Geschichtsbücher. Ab 2023 soll das Arbeitslosengeld II durch das Bürgergeld ersetzt werden. Das bedeutet kurz gesagt: rund 50 Euro mehr im Monat, weniger Sanktionen und das Vermögen bleibt länger verschont.

Ist es damit gerechter? Kritiker meinen, das Bürgergeld setze falsche Anreize und lasse die Empfänger allein. Die LZ sprach mit Stefan Susat, Vorstand des Jobcenters in Detmold.

Herr Susat, Deutschland versucht noch, an einer Rezession vorbei zu kommen, doch der Arbeitsmarkt bleibt Prognosen zufolge relativ stabil. Was genau verändert das neue Bürgergeld?

Stefan Susat: Die Bundesregierung hat sich mit der Einführung eines Bürgergeldes zum Ziel gesetzt, die Grundsicherung für Arbeitsuchende grundlegend zu erneuern, um mehr Chancengerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Wird sich der Fokus sich für die Betroffenen verändern?

Stefan Susat: Ein Ziel der Einführung des Bürgergeldes ist es auch, gesetzliche Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass es Menschen im Leistungsbezug möglich wird, sich stärker auf Qualifizierung, Weiterbildung und die Arbeitsuche zu konzentrieren. Das Bürgergeld zielt weiterhin auf Integration in Arbeit oder Ausbildung ab; allerdings unter der Voraussetzung, dass diese Integration nachhaltig gelingt.

Fangen wir mal vorne an. Ist es angesichts des bekannten Arbeitskräftemangels bald der Normalfall, dass in manchen Branchen die Jobs unbesetzt bleiben?

Stefan Susat: Diese Frage kann nicht mit einem einfachen Ja oder Nein beantwortet werden. Der Arbeitsmarkt an sich ist da sehr different. Wir sehen aktuell, dass es einigen Branchen während und nach Corona nicht gelungen ist, ihren Personalstamm zu halten, weil die einstigen Arbeitnehmer in lukrativere Jobs abgewandert sind.

Auf längere Wartezeiten und schleppendere Bürokratie müssen sich die Menschen einstellen. Könnte die große Gruppe der Arbeitssuchenden am Arbeitsmarkt Abhilfe schaffen?

Stefan Susat: Wir reden in Deutschland inzwischen nicht mehr von einem Fachkräftemangel, sondern von einem Arbeitskräftemangel. Dies hat die Bundesregierung erkannt und eine entsprechende Fachkräftestrategie aufgelegt.

Liege ich mit der Kritik an der &bdquo;deutschen Bürokratie" falsch?

Stefan Susat: Lassen Sie mich zwei Worte zum Bürokratieabbau sagen. Ja, Deutschland ist dafür bekannt, dass wir vieles verkomplizieren. Aber eines haben die Krisen der beiden vergangenen Jahre auch gezeigt. Jobcenter kann auch Krise. Hier möchte ich nur kurz auf den Rechtskreiswechsel der ukrainischen Kriegsflüchtlinge zum 1. Juni diesen Jahres verweisen. Rund 4000 Erstanträge wurden in kürzester Zeit von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bearbeitet und bewilligt. Da gab es weder schleppende Bürokratie noch längere Wartezeiten.

Blicken wir auf die aktuelle Krise. Traditionell gehen die Einstellungen ja oft in Krisen zurück. Ist die Zahl der Arbeitslosen stabil oder werden es 2023 mehr?

Stefan Susat: Abgesehen vom Zuzug der ukrainischen Flüchtlinge ist die Anzahl der Arbeitslosen in den letzten Jahren in Lippe kontinuierlich gesunken. Dies gilt, und da bin ich besonders stolz drauf, auch für den Bereich der SGB-II-Langzeitbeziehenden und dies selbst während der Corona-Zeit. Allerdings ist eine Wende bei der Schaffung von immer neuen Arbeitsplätzen zu beobachten, dadurch kann es zu einer geringeren Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes kommen. Wenn ich über das Jahr 2023 hinweg schaue, wird auch der demografische Faktor auf die Zahl der Arbeitslosen Einfluss nehmen.

In welche Richtung?

Stefan Susat: Allein aus Altersgründen wird die Zahl an Arbeitsfähigen und damit Arbeitssuchenden in Zukunft abnehmen.

Der Bestand an offenen Stellen ist weiter hoch, dazu kommen die Renteneintritte. Im Handwerk werden viele Nachwuchskräfte gesucht. Was müsste sich ändern, damit die Passgenauigkeit von offenen Stellen und Bewerben sich verbessert?

Stefan Susat: Die Attraktivität der Arbeitsstellen hat viel mit den Unterschieden in den Branchen zu tun. Auch hier sind wir an einer Kehrtwende. Jahrelang wurde auf sehr viel Bildung gesetzt und damit der Status der nicht akademischen Bildung geschmälert. Auch hier ist eine Trendwende erkennbar, die durch Information über Zukunftsperspektiven, aber auch Weiterbildungsmöglichkeiten im Job weiter vorangetrieben werden kann.

Was hilft?

Stefan Susat: Wenn beispielsweise der Meistertitel im Handwerk einem Bachelor-Titel der Universitäten gleichgesetzt würde, wäre schon einiges gewonnen. Inzwischen gilt der alte Ausspruch wieder: Handwerk hat goldenen Boden.

Stehen die Jobcenter selbst vor einem Problem der zusätzlichen Arbeitsbelastung?

Stefan Susat: Grundsätzlich ist das Thema Arbeitsanfall und damit Arbeitsbelastung für uns kein neues Thema. Zu Beginn war es die Wirtschaftskrise, dann die sogenannte Flüchtlingskrise, dann Corona und jetzt Ukrainer und die Energiekrise. Zum Glück sind die Jobcenter, insbesondere die kommunal geführten, sehr flexibel und können auf Krisen entsprechend reagieren.

Herr Susat – eine Antwort ohne &bdquo;aber"?

Stefan Susat: Man muss auch ehrlich sagen dürfen, dass die Mitarbeiter in den Jobcentern nach den vielen &bdquo;Krisen" ein bisschen müde sind. Wir müssen aufpassen, und damit meine ich auch die Politik, dass wir den Bogen nicht überspannen.

Die Ampel will zudem das Einwanderungsgesetz reformieren. Können &bdquo;Chancenkarte" und Co. wirklich helfen, mehr ausländische Fachkräfte gezielt in Jobs zu bekommen?

Stefan Susat : Auch das ist Teil der Fachkräftestrategie der Bundesregierung. Sicherlich ist dies ein guter Ansatz. Beim Thema Qualifikation der neuen Fachkräfte wird man dann sehen müssen. Mehr Flexibilität wäre da wünschenswert.

Teilweise warten die Menschen ein Jahr oder länger auf ein Visum – das ist eine riesige Hürde. Läuft die Berufsanerkennung zu schleppend?

Stefan Susat: Von außen betrachtet muss man das wohl so feststellen. Das meinte ich mit Flexibilität in der Anerkennung von Qualifikationen. Wir haben in Deutschland ein tolles Ausbildungssystem. Um unsere duale Ausbildung werden wir vielerorts beneidet. Und das zu Recht.

Auch die deutsche Sprache ist relativ schwierig. Das lockt nicht gerade an... Oder?

Stefan Susat: Das ist grundsätzlich richtig. Aber auch da tun wir inzwischen eine ganze Menge. Die Sprachförderung wurde seit dem ersten Zuwanderungsgesetz 2005 als Hauptaufgabe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) festgelegt. Seit der Zeit und besonders seit 2015/16 hat sich die Sprachförderung unglaublich durch Differenzierung und Ausweitung der Angebote professionalisiert. Ich kenne kein Land, das sich so viel Mühe gibt, um den Menschen die Sprache des neuen Heimatlandes professionell und systematisch beizubringen.

Welche Rolle spielt die Zeitarbeit mittlerweile?

Stefan Susat: In Lippe ist Zeitarbeit sehr viel geringer ein Thema als in den angrenzenden Kreisen und Städten.

Finale. Herr Susat, steht der Arbeitsmarkt mit der Reform zum Bürgergeld vor einer spürbaren Veränderung?

Stefan Susat: Das Bürgergeld selbst wird den Arbeitsmarkt nicht verändern. Es soll ja vielmehr das SGB II weiterentwickeln, weil sich der Arbeitsmarkt verändert hat. Für meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist wichtig, dass wir zeitgemäße Instrumente für die Qualifizierung und Vermittlung der Menschen an die Hand bekommen. Dies soll ja mit dem Bürgergeld passieren.

Derzeit kursieren einige Rechenbeispiele, wonach es sich kaum noch lohnt zu arbeiten, weil das, was dann am Ende netto übrig bleibt, quasi dem Bürgergeld plus den vielen verschiedenen möglichen Zuschüssen entspricht. Wo liegt die Grenze?

Stefan Susat: Zuerst einmal, Arbeit lohnt sich immer. Als zweites: Solche Rechenbeispiele oder Grenzen sind nicht seriös. Das SGB II wird individuell berechnet, so dass jeder Einzelfall anders ist und Vergleiche allein aus diesem Grund immer hinken. Darüber hinaus ist Arbeit mehr als nur das Erwirtschaften des Lebensunterhaltes. Es ist Tagesstruktur, Teilhabe, Selbstbestimmung und vieles mehr.

Mal im Klartext: Wird es Fälle geben, in denen es sich &bdquo;mehr lohnt" nicht zu arbeiten, anstatt zu arbeiten?

Stefan Susat: Darauf ein klares &bdquo;Nein".

Stimmen zum Bürgergeld Corinna Kronsbein (Arbeitgeberverband)

&bdquo;Das Bürgergeld setzt arbeitsmarktpolitisch das falsche Signal. Mit den Regelungen zum Schonvermögen weist es den Weg in Richtung bedingungslosem Grundeinkommen und erleichtert damit faktisch Frühverrentungen", sagt Corinna Kronsbein, Hauptgeschäftsführerin des Arbeitgeberverbandes Lippe.

&bdquo;Beides ist vor dem Hintergrund von Arbeits- und Fachkräftemangel eine fatale Fehlentscheidung. Von Leistungsbeziehern ein Mitwirken einzufordern oder in bestimmtem Umfang Vermögen zu berücksichtigen, ist Bestandteil unseres Sozialstaatsprinzips und ein Gebot der Gerechtigkeit gegenüber denjenigen, die mit ihren Steuern und Abgaben Sozialleistungen finanzieren. Von diesen Prinzipien verabschiedet sich das Bürgergeld leider. Darüber hinaus verkennt das Gesetz die erfolgreiche Arbeit der Jobcenter. Die Jobcenter gewährleisten – anders als das Gesetz suggeriert – schon heute eine Beratung auf Augenhöhe, die für sehr viele Menschen den Weg in eine Beschäftigung ermöglicht", so Corinna Kronsbein.

Kerstin Vieregge (CDU)

&bdquo;Vorab, meine Kollegen und ich gönnen den Menschen alles, was sie für ein auskömmliches Leben brauchen. Daher sind wir auch für eine Erhöhung der Regelsätze, denn gerade in Zeiten von Energiekrise und Inflation muss den Menschen mit geringen Einkommen oder in der Grundsicherung geholfen werden", erklärt CDU-Bundestagsabgeordnete Kerstin Vieregge. &bdquo;Aber das Bürgergeld als Instrument ist falsch, denn es ist sozial ungerecht. Arbeitssuchende werden aufgegeben, statt einer Vermittlung in Arbeit werden sie nur noch verwaltet. Das Prinzip des Förderns und Forderns wird konterkariert.

Es fehlen Vorschläge, wie Menschen in Arbeit gebracht werden sollen – stattdessen sechs Monate Schonzeit ohne auch nur eine Forderung an den Bezieher von Bürgergeld zu stellen. Zudem stehen beispielsweise 150.000 Euro Schonvermögen für eine vierköpfige Familie für zwei Jahre im Raum, was keinem Steuerzahler erklärbar ist. Wer eine Ausbildung gemacht hat und jeden Tag arbeitet, muss auch davon leben können. Arbeit muss sich wieder lohnen. Es braucht Strukturen und Anreize und wenn nötig auch Sanktionen, auch wenn Letzteres nur rund drei Prozent der Leistungsbezieher betrifft", so Vieregge.

Jürgen Berghahn (SPD)

&bdquo;Mit dem Bürgergeld verabschieden wir uns nicht nur von Hartz IV und lösen ein Wahlversprechen ein. Wir schaffen auch mehr Sicherheit für Menschen, die beruflich in schwierige Lebenslagen geraten", erklärt SPD-Bundestagsabgeordneter Jürgen Berghahn. &bdquo;Mit dem Bürgergeld begegnen wir den Menschen mit Respekt und schaffen Vertrauen. Wir wollen mehr Bürgerfreundlichkeit und weniger Bürokratie, neue Chancen auf dem Arbeitsmarkt, mehr Sicherheit und Respekt vor der bisherigen Lebensleistung sowie höhere Regelsätze erreichen. Was es bedeutet, arbeitslos zu werden und Sozialleistungen zu beziehen, weiß ich aus eigener Erfahrung.

Das ist sehr belastend. Dass CDU/CSU nun versuchen, das Bürgergeld als eine Art Grundeinkommen darzustellen, durch das Arbeitslose bald mehr in der Tasche hätten als Geringverdienende, halte ich für ganz schlechten Stil. Die CSU veröffentlicht falsche Zahlen, die vom DGB widerlegt werden, Friedrich Merz oder Carsten Linnemann zitieren zu kurz greifende Statistiken und Studien: Das ist Stimmungsmache aus der untersten Schublade und ein billiger Versuch, Menschen gegeneinander auszuspielen. Das Bürgergeld ist eine große Chance – und die sollten wir nutzen!"

Robin Wagener (Die Grünen)

&bdquo;Das Bürgergeld ist in meinen Augen ein richtiger und wichtiger Schritt zur Senkung des Armutsrisikos einzelner Menschen und ganzer Familien. Daher müssen wir es genau jetzt in den aktuellen unsicheren Zeiten einführen", sagt Bundestagsabgeordneter Robin Wagener (Bündnis 90/Die Grünen). &bdquo;Hartz IV hat zum einen gezeigt, dass der Regelsatz zu niedrig ist und dringend angepasst werden muss.

Dazu kommt, dass die Mehrheit derer, die auf die Grundsicherung angewiesen ist, – oft aus gesundheitlichen Gründen – nicht jeden Job annehmen kann. Da hilft es nicht, durch Sanktionen der Jobcenter nicht passgenaue Bewerbungen zu erzwingen. Diese bisherige Praxis führt zu einem unverhältnismäßigen Bürokratieaufwand. Mit der geplanten Vertrauenszeit ohne Sanktionen wird eine viel passgenauere Umorientierung, Qualifikation und Vermittlung ermöglicht und nur diese kann nachhaltig Arbeitskräfte für Unternehmen sichern", so Wagener.

Christian Sauter (FDP)

&bdquo;Nach dem Beschluss des Bundestages und der Ablehnung im Bundesrat soll nun im Vermittlungsausschuss eine Einigung erzielt werden. Ein Baustein der Reform auf Initiative der FDP ist, Hinzuverdienstgrenzen zu erhöhen und Weiterqualifizierung zu fördern", erklärt der FDP-Bundestagsabgeordnete Christian Sauter. "Das Leistungsprinzip ist ein wichtiger Bestandteil der Bewertung, so dass Arbeit sich erkennbar lohnen muss. Wer arbeitet, muss spürbar mehr Geld zur Verfügung haben. Eine finale Bewertung kann erst am Ende des politischen Entscheidungsprozesses erfolgen."

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