Lügen vor Gericht: Was wirklich zählt und weshalb Richter nie ganz sicher sein können

Blomberg. Lippes kleinstes Amtsgericht hat seit einigen Monaten einen neuen Chef. Richter Viktor Friesen hatte zuletzt interimsweise das Amtsgericht Delbrück geleitet und bündelt jetzt seit November als Amtsgerichtsdirektor in Blomberg Verwaltungsaufgaben mit seinem Herzensjob als Richter. Hier kümmert er sich wieder vorrangig um sein Steckenpferd: Zivilsachen.

Im Gespräch verrät Viktor Friesen (45), weshalb er auch nach einem Jahrzehnt als Richter nicht immer sicher sein kann, ob er angelogen wird, was seinen Beruf ausmacht und wie sich das Spannungsverhältnis zwischen öffentlicher Wahrnehmung und Rechtsstaat aus seiner Sicht am ehesten aufbrechen lassen könnte.

Herr Friesen, Sie haben anfangs kurz gezögert und sich gefragt, ob ein Interview mit Blombergs neuem Amtsgerichtsdirektor für den Leser oder die Leserin überhaupt spannend genug sei. Dabei haben Sie doch einen der spannendsten Berufe überhaupt, oder nicht?

Viktor Friesen: Das stimmt. Also ich mag meinen Beruf sehr - immer noch. Ich denke, dass wir hier wirklich eine sehr verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben. Jeden Tag erlebt man neue Geschichten – und einige davon hätte man sich gestern noch nicht vorstellen können.

Was macht die Rolle eines Richters/einer Richterin konkret aus?

Friesen: Wir sprechen hier Recht, verhelfen Leuten zu ihrem Recht oder müssen anderen erklären, weshalb sie vielleicht das Recht nicht auf ihrer Seite haben. Damit tragen wir dazu bei, dass der Rechtsstaat, in dem wir leben, in der Wirklichkeit ankommt.

Sie waren ja nach dem Studium auch mal als Anwalt tätig. War das ähnlich erfüllend?

Friesen: Das ist auch eine spannende und wichtige Tätigkeit für die Gesellschaft, ich will sie gar nicht schlecht- oder kleinreden, aber man ist nun mal Parteivertreter. Man muss die Interessen seiner Mandantschaft durchsetzen. Zum Teil decken die sich mit den eigenen Wertvorstellungen, aber eben auch nicht immer.

Also können Sie als Richter eher Ihrem moralischen Kompass folgen?

Friesen: Als Richter kann ich wirklich auch das Richtige tun, so wie es das Gesetz vorsieht, und muss nicht darauf Rücksicht nehmen oder mich nicht davon leiten lassen, was meine Partei von mir möchte. Ich kann sagen, so sieht das Gesetz es vor, und deswegen ist die Sache jetzt so oder so zu beurteilen. Das macht für mich den Beruf aus.

Sie sind jetzt zehn Jahre Richter. Entwickelt man da zwangsläufig ein Gespür für Menschen?

Friesen: Das würde ich mir schon zuschreiben, wobei man auch ehrlich sagen muss, dass man den Menschen nur vor den Kopf gucken kann. Und auch heutzutage bin ich mir, selbst wenn ich das Urteil gesprochen habe, nicht immer sicher, ob ich jetzt angelogen worden bin oder nicht.

Das klingt ernüchternd.

Friesen: Natürlich entwickelt man ein Gespür und man hat auch Techniken, wie man Ungereimtheiten feststellen kann oder zum Schluss kommt, dass die Aussage nicht wahr gewesen sein kann. Auf der anderen Seite gibt es eben Menschen, die sehr gut lügen können. Ich glaube, man sollte sich nicht anmaßen, aufgrund einer Aussage erkennen zu können, was die Wahrheit ist. Auch nach vielen Berufsjahren nicht. Menschen sind sehr unterschiedlich.

Sie waren kaum Chef hier, da mussten Sie sich direkt mit dem Fall eines wahren Querulanten befassen, der das Gericht quasi mit Klagen überschüttet. Wir wollen nicht über Einzelfälle sprechen, aber: Muss man da nicht selbst den Kopf schütteln?

Friesen: Allgemein lässt sich sagen: Es gibt Anliegen von Parteien, die kann man nachvollziehen. Und es gibt Verfahren, da fragt man sich, was möchte der- oder diejenige eigentlich? Ändert aber nichts daran, dass wir unseren Job machen und jedes Anliegen ernstnehmen. Am Ende müssen wir den Menschen erklären, ob sie im Recht sind oder eben nicht. Es gibt an allen Gerichten mehr oder weniger nette Leute, die zu einem kommen.

Welche Besonderheiten machen den Standort hier in Blomberg für Sie aus?

Friesen: Es ist ein relativ kleines Amtsgericht, auch im Vergleich zu den anderen beiden Amtsgerichten, die wir in Lippe noch haben. Besonders ist, dass wir eine sehr große Fläche im Südosten des Kreises abdecken, aber mit etwa 42.000 Menschen aus den vier Kommunen des Bezirks für verhältnismäßig wenige zuständig sind. Ich habe auch das Gefühl, dass es im Vergleich zu anderen Amtsgerichten hier mehr Menschen gibt, die sich zivilrechtlich nicht anwaltlich vertreten lassen. Das macht die Arbeit auch ein bisschen anders.

Was heißt anders? Mühsamer?

Friesen: Ja, einem Anwalt muss ich nicht viel erklären. Der weiß, was im Gesetz steht und was möglich ist. Wenn ich ein Verfahren habe, wo die Parteien durch Anwälte vertreten sind, gehe ich davon aus, dass sie vorher entsprechend beraten wurden. Aber wenn hier eine Partei sitzt, die keine Anwälte an ihrer Seite hat, verstehe ich es schon als meine Pflicht, ein wenig ausgiebiger zu erklären, worum es geht und was rechtlich dabei rumkommen kann.

Klingt also nach Mehrarbeit.

Friesen: Es nutzt ja nichts, wenn ich mich da hinsetze und sage: Klage abgewiesen - und der Bürger weiß überhaupt nicht, warum. Dann verliert er nämlich den Glauben an den Rechtsstaat und das ist genau das Gegenteil von dem, was wir wollen.

Gefühlt gibt es immer mehr Menschen, die der Justiz skeptisch gegenüberstehen. Was sagen Sie denen?

Friesen: Ich bemühe mich, immer zu erklären, warum etwas so ist, wie es ist. Ich mache den Job jetzt schon ein paar Jährchen und musste noch nie eine Entscheidung treffen, bei der ich natürlich an das Gesetz gebunden bin, aber persönlich vielleicht anderer Meinung gewesen wäre. Also bei der ich nicht damit einverstanden war, wie das in Deutschland gesetzlich geregelt ist.

Heißt das, das deutsche Recht ist perfekt?

Friesen: Natürlich gibt es hier und da Anpassungs- oder Verbesserungsbedarf, aber alles in allem haben wir gute Gesetze, die viele Dinge gut regeln. Und wenn sich alle daran halten würden, hätte man ein schönes Leben und deswegen stehe ich persönlich dahinter, wenn ich etwas entscheide. Menschen, die skeptisch sind, kann man das nur erklären.

Trotzdem stehen öffentliche Wahrnehmung und Rechtsstaatlichkeit oft im Spannungsverhältnis. Wie kommt das?

Friesen: Sie spielen auf Strafverfahren an, bei denen die Öffentlichkeit mit dem Strafmaß nicht einverstanden ist. Das liegt oft viel daran, dass solche Verfahren in der öffentlichen Berichterstattung nur verkürzt dargestellt werden können. Das soll gar keine Kritik an der Presse sein. Mir ist klar, dass man nicht jede Facette abbilden kann. Aber gerade in komplexeren Verfahren, wo über mehrere Tage oder Monate verhandelt wird, kommt es auf die genaue Kenntnis der Einzelheiten des Falls an. Das ist erforderlich, um beurteilen zu können, welche Sanktionen angemessen sind.

Mancher Fall ist komplex. Nicht grundlos feilscht man als Gerichtsreporterin gern um jede Zeile...

Friesen: Ich glaube, dieser Umstand, dass ich nur ein bestimmtes Maß an Informationen habe, führt dazu, dass ich den Fall nicht insgesamt verstehe, mit dem Ergebnis, dass das irgendwie gegen mein Bauchgefühl verstößt und ich damit nicht einverstanden bin. Solchen Leuten könnte man nur empfehlen: Macht mal ein Strafverfahren mit, setzt euch in den Sitzungssaal - und zwar bei jedem Termin. Am Ende wird man sehen, ob die Einschätzung immer noch abweicht oder nicht. Dass das funktioniert, sieht man ja an den Schöffen.

Inwiefern?

Friesen: Das für uns zuständige Schöffengericht ist zwar in Detmold, ich war aber an einem anderen Gericht selbst mal Strafrichter und als Vorsitzender eines Schöffengerichts tätig, da hat man mit Leuten gemeinsam eine Entscheidung zu treffen, die keine juristische Ausbildung haben. Und auch hier, ohne jetzt auf Einzelfälle eingehen zu wollen, kann ich in der Gesamtschau sagen, dass wir uns immer relativ einig waren, was das Strafmaß angeht. Große Diskussionen gab es darüber in Beratungen selten.

In Blomberg widmen Sie sich jetzt vorrangig wieder den Zivilsachen. Sind die Ihr Steckenpferd?

Friesen: Wir können als Richter in allen Bereichen eingesetzt werden, das ist klar. Aber natürlich hat man gewisse Vorlieben. Bei mir sind es tatsächlich die Zivilsachen, deswegen mache ich es jetzt hier auch wieder. Die Kolleginnen und Kollegen waren glücklicherweise so nett, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich habe lange Zeit auch Strafsachen gemacht, auch das war in Ordnung, aber wenn ich es mir aussuchen kann, dann mache ich lieber die Zivilsachen.

Und warum?

Friesen: Mich reizt besonders, dass ich da mehr als in anderen Bereichen gestalten kann. Also in Strafsachen habe ich jemanden, der die Straftat entweder begangen hat oder nicht. Entweder ist die Person freizusprechen oder zu verurteilen. In Zivilsachen, wenn sich zwei Leute streiten, habe ich zumindest die Möglichkeit, zu versuchen, zu einer gütlichen Einigung zu kommen. Wenn das gelingt, ist am Ende des Tages allen mehr geholfen, als wenn einer durch ein Urteil gewinnt und der andere verliert. Dann gehen vielleicht beide mit einem Lächeln aus dem Sitzungssaal.

Was kommt am Amtsgericht Blomberg aktuell auf Sie zu?

Friesen: Wir sind gerade dabei, die E-Akte als letzten Schritt in Strafsachen einzuführen. Im Zivilbereich läuft das schon sehr gut. Das Projekt muss bis Januar 2026 abgeschlossen sein. Natürlich ändert sich damit die Arbeitsweise: Wenn ich die Papierakten bearbeite, kann ich ja nicht jedes Mal erst eine Spedition beauftragen, um mit ihr nach Hause zu fahren. Jetzt mit der E-Akte spielt es kaum mehr eine Rolle, von wo ich die Arbeit mache. Das ermöglicht mehr Homeoffice. Die Digitalisierung innerhalb der Justiz ist damit ein gutes Stück vorangekommen.

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