Blomberg-Brüntrup. Hoch oben auf dem Anhänger ist definitiv der beste Platz. Der junge Mann mit der grünen Basecap steht dort wie auf einem Karnevalswagen und strahlt zu der Fotografin herüber. Seine nicht ganz akkuraten Zähne kommen zum Vorschein. Er zwinkert, dann schaut er weg, muss sich wieder konzentrieren auf das, was unter ihm passiert. Der Kürbisfänger Auf dem Feld, nah am Anhänger, bewegen sich Männer und Frauen langsam zum Schneckentempo des Treckers vorwärts, die meisten jung, manche aber auch schon in den 50ern. Sie gehen sachte voran, bücken sich, heben die orangenen Kugeln vom Boden auf. Mal eine, mal zwei, je nach Größe, halten sie sie vorm Bauch und werfen sie nacheinander in die Luft. Dann bücken sie sich wieder, sammeln auf und werfen. Der junge Mann im blauen Superdry-Hoodie auf dem Anhänger muss aufpassen. Er ist nicht im Karneval und wirft keine Kamelle. Er ist der Kürbisfänger. Als Landwirt Friedrich Niedermeier mir bei einem Treffen Anfang des Jahres von den beiden Kürbisfeldern seines Sohnes Philipp (30) erzählt und von der ungewöhnlichen Form der Ernte, mag ich es kaum glauben. Denn auch wenn High Tech längst Einzug in die Landwirtschaft gehalten hat – Kürbisernte ist echte Handarbeit. Der Einsatz von Maschinen würde mehr kaputt machen als helfen. Niedermeier zückte damals sein Handy und zeigte ein Video vom Vorjahr – darauf zu sehen: Menschen, die die orangenen Kugeln im Akkord werfen, während sich der Traktor mit dem Anhänger langsam vorwärts bewegt. Und so ist es tatsächlich. Es ist Sonntagmittag, der erste echte Herbsttag des Jahres. Die 26 rumänischen Arbeiter sind heute ausnahmsweise auf den beiden Feldern hinter dem Niedermeierschen Hof am Ortsrand von Brüntrup tätig. In der Regel arbeiten sie nahe Bielefeld, wo sie auch untergebracht werden: Sie ernten Salat und tüten ihn direkt auf dem Feld ein, oder Brokkoli. Die Faulen stecken die Gesunden an Für heute war die Wettervorhersage schlecht. Da konnten die Männer und Frauen gen Lippe „ausgeliehen“ werden. Dem Kürbis, und sei er auch noch so empfindlich, ist es egal, ob es regnet oder die Sonne scheint. Die Herbstfrucht ist reif – und lässt sich bei jedem Wetter ernten. Allerdings müssen die Saisonarbeiter vorsichtig vorgehen. Hokkaidos sind kleine Sensibelchen. Werden sie beschädigt, sind sie wertlos. Faulen in der Kiste, stecken den Rest an. Werden spätestens bei der Endkontrolle aussortiert. Schmälern den Ertrag. Ein Trupp schneidet die Pflanzen vorsichtig ab. „Nicht reißen“, warnt Niedermeier, denn ist die Schnittstelle akkurat am Stiel abgetrennt, verkorkt dieser recht schnell – das Kürbisinnere ist geschützt, die Frucht hält sich Monate. Allerdings nur, wenn die scharfe Klinge nicht versehentlich einen Cut in den Korpus geritzt hat. Philipp Niedermeier deutet auf ein recht passabel gewachsenes Exemplar, bei dem genau das passiert ist – es ist wertlos. Der Landwirt sitzt auf dem Trecker, der sich 200 bis 400 Meter in einer Stunde bewegt. Rechts und links von der Fahrrinne leuchten die orangefarbenen Hokkaidos um die Wette, die die Truppe aus zehn Arbeitern nach dem Abschneiden in eine Linie geworfen hat. So haben es die Kollegen einfacher, die die Hokkaidos nun auf den Anhänger werfen. Blattlaus überträgt Virus Die Arbeiterinnen und Arbeiter wissen, welche sie auf dem Feld liegenlassen sollen: Die beschädigten auf jeden Fall, aber auch zu kleine Kürbisse gelangen nicht in die Kisten. Das Mindestgewicht betrage 600 Gramm, sagt Philipp Niedermeier. Und dann sind da noch die grün gesprenkelten – hübsch anzusehen, beinahe wie ein Zierkürbis. Doch der Schein trügt: „Eine Blattlaus hat hier einen Virus übertragen“, erklärt Friedrich Niedermeier. Das habe zwar weder Einfluss auf den Geschmack noch auf die Genießbarkeit des Kürbisses, aussortiert werden die Exemplare trotzdem, denn die Händler nehmen nur einwandfreie Ware ab. „Besser, sie bleiben gleich auf dem Feld liegen und werden später untergepflügt, denn wenn sie erst nach Bielefeld transportiert und dort aussortiert werden, verursacht das unnötige Transportkosten“, sagt Philipp Niedermeier. Die Virusbelastung und auch die Unkrautregulierung seien eine besondere Herausforderung gewesen. Um 6.30 Uhr begann für die Saisonkräfte heute der Arbeitstag. Start in Bielefeld, Ziel der Niedermeier-Hof, wo Friedrich Niedermeier und sein Sohn Philipp mit Trecker und Anhänger warteten. Kurz vor Mittag ist das erste, das kleinere der beiden Felder, bereits abgeerntet. Um 18.30 Uhr werden die Saisonarbeiter Feierabend haben. Friedrich Niedermeier wiegt den Kopf hin und her: „Es ist ungefähr ein Drittel geschafft. Wir werden heute nicht fertig werden.“ Ein Problem ist das jedoch nicht, denn die Kürbisse können auch längere Zeit auf dem Feld liegen ohne Schaden zu nehmen. Und die Saisonkräfte müssen in den nächsten Tagen ohnehin Arbeiten verrichten, die einen Ausgleich zu der einseitigen körperlichen Belastung bilden. Dass 26 Erntehelfer 100.000 Kürbisse an einem Tag abschneiden und auf den Anhänger werfen können, kann sich ein Laie sowieso nicht vorstellen. Denn so hoch dürfte laut Niedermeier der Ertrag auf der fünf Hektar großen Fläche sein – 12.000 Kürbiskerne hat er pro Hektar im Abstand von 90 mal 90 Zentimeter gedrillt. 20 Tonnen wurden am Ende pro Hektar geerntet. Legt man ein Durchschnittsgewicht von einem Kilo zugrunde, wären das 20.000 Kürbisse auf einem Hektar. Mehr Würfe als Handballprofis Die Ernte erfordert einen hohen körperlichen Einsatz: Abschneiden, fangen, werfen: wie viele Bälle wirft und fängt wohl ein Handballprofi des TBV Lemgo Lippe am Tag? Und jene Handbälle wiegen noch nicht einmal 500 Gramm. Die Hokkaidos wiegen oft das Doppelte. Philipp Niedermeier klaubt ein besonders dickes Exemplar vom Boden und wiegt es in der Hand hin und her: „Der hier hat mindestens 1,4 Kilo“, schätzt er. Nichts für zart besaitete Deutsche – doch den Rumänen auf dem Feld scheint der Körpereinsatz nichts auszumachen – sie lächeln, posieren mit Daumen hoch für Fotos – und arbeiten dann weiter. Selbstständig legen sie ihre Pausen fest, stehen dann zusammen, trinken Wasser, essen einen Schokoriegel oder rauchen diese besonderen russischen Zigaretten, die sie so günstig bekommen haben. „Eine Viertelstunde“, bedeuten sie mit Fingern ihrem Auftraggeber. Die Verständigung geschieht mit Händen und Füßen – denn die Saisonarbeiter verstehen und sprechen weder deutsch noch englisch. „Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass das moderne Sklavenarbeit ist“, betont Philipp Niedermeier. Die Helfer erhielten den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von 12,82 Euro, macht weit mehr als 2000 Euro im Monat. In Rumänien liegt der Mindestlohn für Hilfskräfte bei umgerechnet rund 814 Euro brutto im Monat: „Manche können sich zu Hause am Ende der Saison von dem Verdienst ein Haus bauen“, sagt Friedrich Niedermeier. Das lohnt für die rumänischen Gastarbeiter auf jeden Fall. Ob sich der Anbau von Kürbissen auch für den lippischen Landwirt rechnet? Philipp Niedermeier hat den Versuch gewagt: Drei Jahre lang will er probeweise Möhren, Hokkaidos und Zwiebeln für die regionalen Supermärkte und Discounter anbauen. Der 30-Jährige steigt auf den Trecker und fährt die nächste Fuhre vom Feld ab. Nächstes Jahr wird er hier Weizen anbauen. Die Kürbisse sollen auf einer Fläche bei Blomberg wachsen. Und dann wird ein Strich unter die Rechnung gemacht: Ob sich die handgemachte Landwirtschaft wirklich für den Landwirt lohnt und der Kunde weiterhin Kürbisse von Blomberger Feldern in den Supermarkt-Regalen finden wird, soll sich dann zeigen.