Australier und Franzose füllen in Lage die Lücken der Familiengeschichte

Lage. Die Vorhänge der Aula in der Sekundarschule sind zugezogen, historische Fotos zeigen einen Mann, der in einer Festschrift in die Kamera lächelt und dasselbe Foto, auf dem sein Gesicht 1938 ausradiert ist. Es ist Teil der Familiengeschichte von Peter Werth. Er lebt in Australien und ist gemeinsam mit seinem Cousin Joost Werthauer in Lage auf Spurensuche.

Seinen Cousin und dessen Frau Sophie, die in der Nähe von Paris leben, hat der Australier seit 30 Jahren nicht gesehen. Spontan hatten diese sich entschlossen, auch nach Lage zu kommen und sich dem australischen Ehepaar anzuschließen. Welche Schrecken die jüdische Familie in der Zeit des Nationalsozialismus in Lage und auf der Flucht durchlebt hatte, darüber habe sein Vater nicht reden können, sagt Peter Werth. Seinen Großvater Max, den Mann auf dem historischen Foto aus der Festschrift des Turnvereins, hat er nie kennengelernt. &bdquo;Er ist in dem Jahr, 1961, gestorben, in dem ich geboren wurde. Eine Familienbibel ist das einzige, was ich habe“, sagt Peter Werth, der mit seiner Frau Lesslie, Joost und Sophie Werthauer einen Tag lang die Lücken in der Familiengeschichte füllt.

Im Rathaus tragen sie sich in das Goldene Buch ein, es ist ein emotionaler Moment. &bdquo;Es ist eine große Ehre für mich, ich muss einen Moment überlegen“, sagt Peter Werth. Am Tisch im Büro von Bürgermeister Matthias Kalkreuter sitzt Martin Hankemeier, der seit Jahrzehnten die Geschichte der jüdischen Familien in Lage erforscht. Er überreicht einen Datenträger an die Gäste, sein neues Buch. Dabei sind auch Hedwig und Claus-Hinrich Graß, die zum Freundeskreis Hankemeiers gehören. Die Geschichte, wie die Nachfahren überhaupt gefunden wurden, ist abenteuerlich. Hankemeier war vielen Hinweisen zur Familie Werthauer nachgegangen, hatte diverse Archive und Städte angeschrieben, um Max und Diedrich Werthauer folgen zu können - auch in Australien.

Busreise durch Australien liefert den Hinweis &bdquo;Dort hieß es, man könne mir nicht direkt helfen, aber in Melbourne sei eine Immobilie verkauft worden, von einem Mann mit dem Namen Richard David Werth“, sagt Hankemeier.

Dann folgte ein Zufall, wie ihn nur das Leben schreiben kann: Hedwig und Claus-Hinrich Graß kamen während ihrer Rundreise durch Australien in einem Bus mit einer Frau ins Gespräch und die konnte die entscheidenden Hinweise zu den Werths geben. Es folgten diverse Telefonate, das Band war geknüpft und es folgte die Vernetzung mit anderen jüdischen Familien.

In Lage gibt es sichtbare Spuren, vor allem dank Hankemeier und seines Freundeskreises. Peter und Lesslie Werth und Joost und Sophie Werthauer folgen ihnen, sehen Stelen in der Stadt, wo die alte Synagoge stand, die zerstört wurde und die neue, die aufgegeben werden musste, die jüdischen Familien wurden ermordet oder vertrieben.

Die steinernen Zeugnisse, die Dokumentation der Vergangenheit, sind das eine, in der Sekundarschule wird die Erinnerungskultur in der voll besetzten Aula in das Jetzt geholt. Im Kreis sitzen den Werths und Werthauers die Jugendlichen Luca und Timo Wißmann, Ben Rinne, Emile Rollhäuser, Leonie Dauven, Celina Röper und Mia Pauls gegenüber. Sie stellen Details der Familiengeschichte vor, die sie gemeinsam mit Lehrerin Julia Bonke-Wirtz und der Unterstützung Hankemeiers erforscht haben.

Sekundarschüler forschen in der Geschichte Da ist zum Beispiel Max Werthauer, der leidenschaftliche Turner, der 1886 in Lage geboren wurde, und in der Festschrift des Vereins auf einem Foto lächelnd zu sehen ist, dann aber ausradiert wurde, oder das Foto des Hauses in der Hellmeyerstraße. In der Freiligrath-Schule, der heutigen Sekundarschule, hatte sein Sohn Dietrich die Schulbank gedrückt, der in Melbourne als Richard David Werth lebte. Die Jugendlichen fragen auf Deutsch für die Gäste, unter anderem die Schüler des 10. Jahrgangs und die Vertreter einiger Parteien im Rat, und Englisch, wie die Nachfahren der Werthauers ihren Besuch erleben, was sie empfinden, wenn sie heute zurückblicken - ist es Groll oder obsiegt die Zuversicht? Im Hintergrund der Bühne ist zu lesen: &bdquo;Wenn Du vergibst, änderst Du nicht die Vergangenheit. Du änderst die Zukunft.“ Für Joost Werthauer ist das verkürzt. Ja, Vergebung gehöre dazu, aber wichtig sei, aus der Geschichte zu lernen, Toleranz zu leben, sich klar gegen Rassismus, Diskriminierung und Antisemitismus zu stellen. Peter Werth ist tief berührt, wie empathisch die Sekundarschüler sind. Dass es seit 2021 eine Projektgruppe gibt, die sich seit Jahren mit der Geschichte unter der Überschrift &bdquo;Auschwitz Gedenktag“ beschäftigt, &bdquo;ist einfach großartig“.

&bdquo;Die Jugendlichen gehen ins Archiv, wir haben Kooperationen unter anderem mit dem Lippischen Heimatbund und mit Martin Hankemeier“, sagt die Lehrerin Julia Bonke-Wirtz. Die Jugendlichen investierten viel von ihrer Freizeit im Projekt und das habe mittlerweile Kreise gezogen. &bdquo;Wir haben schon länger auch Verbindungen zur Wewelsburg und werden einen Gedenktag dort ausrichten.“ Schulleiter Armin Zeller knüpft die Verbindung zur aktuellen Situation, zu Flucht und Asyl, zu Wurzeln, die gekappt werden. &bdquo;Auch diese Menschen werden auf die Suche gehen. Aus der Aufarbeitung der Geschichte lernen wir für die Zukunft.“ Rassismus und Antisemitismus hätten an der Schule keinen Platz, das Ziel sei eine Erziehung zu Toleranz, Respekt und Zivilcourage.

Besuch im ehemaligen Elternhaus Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg würden im australischen Unterricht so gut wie gar nicht thematisiert, stellte Werth fest. &bdquo;Es bedeutet mir und meiner Frau sehr viel, dies hier zu erleben“, sagt Peter Werth. Er könne einige Lücken in seiner Familiengeschichte füllen, sie aufschreiben und sie an seine Kinder und Enkel weitergeben. Beim Rundgang durch die Stadt gehen die Jugendlichen mit - und erleben ihre Lehrerin, die eine besondere Tür öffnet. In der Hellmeyerstraße 12 spricht Julia Bonke-Wirtz eine Frau an, die gerade in der Einfahrt steht und sie erklärt, wer gerade auf Spurensuche ist. Als sie Peter Werth und Joost Werthauer sagt, dass sie in das Haus kommen dürfen, das ihrer Familien vor Jahrzehnten gehört hat und aus dem sie fliehen musste, sind diese tief bewegt. Sie gehen weiter zum jüdischen Friedhof, sehen die Gräber, und weiter in ein Baugebiet, wo eine Straße nach ihrer Familie benannt wurde. &bdquo;Wir sehen, dass unsere Geschichte nicht ausradiert wurde, sondern es Menschen gibt, die sie lebendig halten und es Orte gibt, wo sie weiterlebt. Das alles, was wir hier erfahren durften, bedeutet uns viel“, sagt Peter Werth und wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.

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