Lemgoer Grundschul-Sprecherin: "Ich habe Mitleid mit den Eltern"

Lemgo . In Millionen von Familien wird die Küchenecke dieser Tage zur Schulbank. Auch in Lemgo. Doch wie funktioniert das sogenannte Distanzlernen – steht es wirklich für &bdquo;Lernen aus der Ferne" oder bei vielen vielmehr für &bdquo;Lernen in weiter Ferne"? Anke Heitmeier, die Leiterin der Grundschule Lemgo-West in Lieme, ist Sprecherin der Lemgoer Grundschulrektoren. Sie meint: Im Großen und Ganzen läufts gut – wenns auch hier und da mal ruckelt. Und das nicht nur, wenn das Internet während der virtuellen Klassenkonferenz mal wieder schlapp macht.

Im ersten Lockdown, so mein Eindruck, waren auch die Schulen geschockt, und voll damit beschäftigt, das Allernötigste aufrecht zu erhalten. Warum klappts nun in Runde zwei offenkundig besser?

Anke Heitmeier : Ganz Deutschland war geschockt. Aber manche Schulen hatten es eben einfacher, auf Heimbetrieb umzustellen, weil sie da schon vorher weiter waren. Keiner hat vor Corona damit gerechnet, mal im Distanzlernen zu unterrichten. Vor allem wir Grundschulen hatten meistens auch gar nicht die technischen Voraussetzungen. Anwesenheit ist bei uns Standard. Klar, iServ als Plattform war bei uns in Lemgo schon in der Diskussion. Aber Corona hat das deutlich beschleunigt.

Eine digitale Lehrplattform statt Drucker, Kopierer, Projektor und – das höchste der Gefühle – einer digitalen Tafel. Das ist eine Herausforderung ...

Heitmeier : Ja, aber nicht nur für uns. Für alle Beteiligten: für die Kinder, die Eltern, die Kollegen, die OGS, die Integrationshelfer, die Sonderpädagogen, das Jugendamt... Denn: Während im ersten Lockdown alles total abgespeckt war, versuchen wir jetzt, das normale Unterrichtslevel und den Umfang zu halten.

Was heißt das konkret?

Heitmeier: Wir orientieren uns am Stundenplan plus Hausaufgaben. Der Distanz- ist dem Präsenzunterricht in der Zahl der wöchentlichen Unterrichtsstunden gleichwertig.

Zeit, die die Eltern irgendwie begleiten müssen, trotz Homeoffice, Schichtdienst, Haushalt. Haben Sie Mitleid mit Ihren nicht ausgebildeten Co-Lehrern?

Heitmeier : Zweifelsohne. Zwar stellen wir die Aufgaben so, dass die Kinder sie relativ selbstständig bearbeiten können – das gilt ja auch für die Jungen und Mädchen, die in der OGS betreut werden, weil die Eltern arbeiten müssen. Aber wenn ich mir dann eine Familie mit mehreren Kindern im Schulalter vorstelle, die womöglich noch in einer kleinen Wohnung sitzt: Ja, da kann man auch von Mitleid sprechen.

Wie ist denn das Feedback derjenigen, die jetzt an vorderster Front stehen: der Eltern?

Heitmeier : Total positiv. Die meisten halten die Menge der Aufgaben für angemessen und die Art, etwa mit attraktiven Erklärvideos, auch. Wenn etwas nicht klappt, passen wir es an. Auch eine Präsenzpflicht in den Videokonferenzen gibt es nicht. Wenn ein Kinder beispielsweise bei Oma und Opa ist, die es mit dem Internet nicht so haben, ist das halt so. Was aber gut ankommt, ist, dass gegenüber Lockdown eins die Ergebnisse und damit Fortschritte kontrolliert werden.

Irgendwo her brauchen Sie ja eine Grundlage für die Zeugnisse.

Heitmeier : Nein, darum geht es an der Stelle nicht. Es geht darum, ob alle folgen können. Wir begleiten das über E-Mails, Telefonate und Videotelefonie. Wir drehen selbst Erklärvideos oder haben in großer Runde mit den Schülern zusammen ein Arbeitsblatt erarbeitet, mit allem drum und dran.

Aber gibt das bei den Halbjahreszeugnissen nicht Akzeptanzprobleme? So nach dem Motto: Wie will die Lehrerin das aus der Ferne eigentlich beurteilen?

Heitmeier: Die Zeugniskonferenzen haben ja überall schon stattgefunden, auch die Beratungsgespräche für die Viertklässler wegen der Schulform-Empfehlung. Bis in den Dezember hinein waren wir normal unterwegs, da sind unsere Zeugnisse schon aussagekräftig und belastbar.

Was ist mit den Schwächsten? Familien, denen Technik, schnelles Internet und Wissen fehlen?

Heitmeier: Aus den iPad-Koffern haben wir Geräte hier – für Kinder, die aus der OGS-Betreuung raus an den Konferenzen teilnehmen. Aber, wo Bedarf ist, haben wir auch Tablets verliehen. Anfang oder Mitte Februar sollen dann die bestellten Schüler-iPads kommen ... Und wenn das WLAN nicht reicht oder kein Drucker zu Hause vorhanden ist, bieten wir eine Abholung des Materials in der Schule an, teils bringen es Kollegen vorbei, teils wird es per Post geschickt.

Und wenn es an der Sprache hapert? Was ist mit den Flüchtlingskindern?

Heitmeier: Was man sagen kann ist, dass die schnell riesige Fortschritte machen. Wenn die ein halbes Jahr hier sind, können sie eher ihren Eltern mit Deutsch helfen als umgekehrt. Aber klar: Das ist schwierig. Eigentlich müssten die jetzt die Grundlagen lernen, sind aber nicht in der Betreuung, weil die Eltern nicht arbeiten. Wir haben da schon viel Material, das wir rausgeben können, sind aber auf Hilfe angewiesen. Auf Helfer aus der Nachbarschaft, der Kirche, anderer Flüchtlingsfamilien. Die Solidarität erlebe ich als groß.

Wie hoch ist der Anteil der Kinder, die aus der Not der Eltern heraus in die Betreuung kommen?

Heitmeier : Ich kann ihn für Lemgo nicht beziffern, aber gefühlt sind die Zahlen relativ hoch. Vielleicht steigen sie noch, da wir den Lockdown jetzt verlängern. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass die Eltern damit verantwortlich umgehen und ihren Sohn oder ihre Tochter nicht in die Betreuung bringen, wenn sie diese nicht auch benötigen.

Sondern vielmehr, weil sie in der Zwickmühle sitzen.

Heitmeier : Das sehe ich auch so. Abstand halten, Kontakte minimieren, das wollen alle. Aber wie schaffe ich das beruflich? Wie findet mein Arbeitgeber das, und zwar unabhängig von mir womöglich zustehender Krankentage.

Wäre nicht die vom Bielefelder Bildungsforscher Rainer Dollase angeregte Schulzeitverlängerung für alle eine Lösung?

Heitmeier: Die Möglichkeit sehe ich nicht. Nicht räumlich, nicht personell. Wir sollten es im Einzelfall sicher leichter machen, dass Kinder ein Jahr wiederholen. Aber wenn der Jahrgang komplett bleibt, was passiert dann mit den Kindern, die aus dem Kindergarten nachrücken? Irgendwann zieht sich das bis in den Azubi-Jahrgang rein. Wir können Rückstände nur aufarbeiten so gut es geht – mit individuellen Arbeitsplänen, kreativen Ansätzen. Deshalb auch mein Appell: Eltern, melden Sie sich, wenn etwas nicht gut klappt.

Apropos: Dass iServ anfangs hakte, war für Sie ...

Heitmeier : Erwartbar. Wir sind froh, dass wir stadtweit nur das eine System haben. So müssen sich Eltern nicht noch auf unterschiedliche Modelle einlassen. Aber wenn sich am ersten Montag im Lockdown alle gleichzeitig einloggen und starten wollen, Material hoch- und runterladen, ist ja klar, dass das System da in die Knie geht.

Lemgoer Grundschul-Sprecherin: "Ich habe Mitleid mit den Eltern"

Augustdorfer Grundschule bekommt eine halbe OGS-Gruppe zusätzlich

Wegen neuer Regel in NRW: Ältere Grundschüler verlieren ihre OGS-Plätze

Was Grundschüler nachmittags brauchen: Dörentrup steckt 310.000 Euro in „Wohlfühlorte“

Eltern sollen in Dörentrup für die Randstundenbetreuung bald deutlich mehr zahlen

Betreuungsproblem an der Grundschule Heiden? Eltern stellen Bürgerantrag

Sicher auf dem Sattel: Warum Braker Kinder in der Schule radeln lernen

Lippische Landes-Zeitung: Nachrichten aus Lippe, OWL und der Welt

Weiterlesen mit LZplus

0,99 € im ersten Monat

Angebot: Jahresabo nur 99 €