Trägerverein entdeckt das Geheimnis der Schiederaner Judenvilla

Schieder-Schwalenberg. Wer von Siekholz nach Schieder fährt, kommt auf der Bahnhofstraße am Pflegeheim Haus Tabor vorbei. Zwei moderne Baukörper flankieren eine weiße Villa, abgesetzt mit ochsenblutroten Fensterumrandungen. Viele Jahrzehnte hat der Volksmund das prächtige Gebäude als &bdquo;Judenvilla“ bezeichnet. Und tatsächlich hat hier mal eine Jüdin gelebt und gelitten. Doch die Ursprünge reichen viel tiefer, ins vorletzte Jahrhundert hinein.

Als der Trägerverein des christlichen Pflegeheims im Jahr 2017 den ersten Spatenstich für einen Ergänzungsbau machte, da waren nur grobe Eckpunkte zur Historie der alten Villa bekannt. Die Initiatoren haben sich auf Spurensuche begeben, denn: &bdquo;Das Kernstück, die Perle, ist und bleibt das Hauptgebäude“, heißt es in einer vereinsinternen Chronik dazu.

Sägewerk in der Nachbarschaft Der Ursprung ist klar: Das Haus wurde von dem Fabrikanten Heinrich Bohm aus Siekholz gebaut, Miteigentümer des benachbarten Dampfsägewerks und der Holzhandlung Bohm & Romberg. Im Grundbuch des Amtes Eschenbruch, zu dem Siekholz damals gehörte, findet sich der Eintrag 30. Juni 1898. Genau die Jahreszahl, die bei der Restaurierung am First zum Vorschein kann. &bdquo;Sie war vielfach überstrichen, darum konnte man sie und den Namen des Hauses nicht mehr lesen, aber wir haben sie wieder freigelegt“, sagt Einrichtungsleiter Alexander Kandlen. &bdquo;Jetzt wissen wir auch, wie die Villa hieß: Eichenheim.“Der prächtige Briefkopf des Sägewerks aus dem Jahr 1910 gibt eine Zeichnung der damaligen Bahnhofstraße wieder: Oben die prächtige Fabrikantenvilla mit einer schicken Holzveranda rund um die Front, daneben das Sägewerk.

Im Inneren des Gebäudes stößt der Besucher auf lichte, hohe Räume, und auf eine liebevoll restaurierte Treppe aus massiver Eiche und schön gedrechseltem Geländer: Der Erbauer hat keine Mühen gescheut – auch später die Restauratoren nicht, denn heute strahlt es wieder in altem Glanz.Bereits 1912 wechselte die Villa den Besitzer, zunächst ging sie an einen Bankier aus Bielefeld und 1917 an den Fabrikdirektor Gustav Körbke aus Remscheid. Der Kaufmann Max Schmidt, der es erst 1931 erworben hatte, verkaufte es im September 1933 an die Witwe Margot Masse, geborene Jonas, aus Hamburg.Damit beginnt die tragische Geschichte einer Jüdin, die 1911 in Hamburg Alfred Masse heiratet und ausgerechnet im Jahr der Machtübernahme durch die Nazis ins Lipperland zieht. Die damals 38-Jährige soll sich, so ergaben Recherchen bei alteingesessenen Siekholzern, aktiv ins Dorfleben eingebracht haben.&bdquo;Wie gern hätten wir mehr von ihr, über die Umstände ihrer Zeit, ihre Lebensart und mehr über ihre Nachkommen gewusst“, heißt es in der Chronik. Immerhin findet sich im Detmolder Landesarchiv eine persönliche Stellungnahme der Frau, die jahrelang an Margot Masses Seite gelebt und sie gepflegt hat: Die Krankenschwester Elisabeth Mittelstenscheid gibt im September 1952 auf beinahe zehn eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten die Ereignisse zu Protokoll, wie sie sie erlebt hat. Der Schriftsatz scheint in einem Rechtsstreit um eine angebliche Schenkung der

Erinnerungen einer Krankenschwester Margot Masse an ihre Pflegerin eine Rolle gespielt zu haben.Elisabeth Mittelstenscheid hatte 1929 als Pflegerin bei der durch einen Sportunfall gehandicapten Margot Masse begonnen. In der Region um Schieder waren die beiden bereits drei Jahre vor dem Kauf des Hauses gewesen: Auf Kur in Bad Pyrmont. &bdquo;Obwohl der Massesche Haushalt ein sehr vornehmer war und zuzeiten wohl auch schon viel Geld gekostet hat, müssen sich die Verhältnisse doch schon 1931 verschlechtert gehabt haben“, berichtet Elisabeth Mittelstenscheid.Woher war das Geld gekommen? – &bdquo;Bis 1934 waren Alfred Masses Erben wohl durch Vertrag noch an den Hamburger Lotterieeinnahmen beteiligt“, und als es damit vorbei war, blieben immerhin noch &bdquo;die Einkünfte aus Mieteinnahmen der sieben Grundstücke in Hamburg.“ Das Haus in Siekholz hingegen habe &bdquo;Margot Masse allein und persönlich“ gehört.Der Umzug nach Lippe konnte die beiden Frauen nicht vor den Nachstellungen der Nazis retten. Margot Masse wollte fliehen: &bdquo;Seit September 1938 sahen wir uns nach Auswanderungsmöglichkeiten um.“ Die Krankenschwester erzählt, wie sie über einen Mittelsmann im September 1939 Schmuck, Pelzmäntel und Bargeld in die Niederlande schmuggelte, die sie vor dem Zugriff der Nazis gerettet habe. &bdquo;Bei Auffindung der Schmuckstücke in meinem Besitz wäre mir mindestens das KZ sicher gewesen.“

Strafe für kritische Äußerungen Sie selbst habe sich nach der Progromnacht vom 9. November 1938 &bdquo;ziemlich freimütig geäußert“, was ihr am Ende eine Buße von zwei Monatsgehältern, 120 Reichsmark, eingetragen habe. Mitte Juli 1939 habe die Gestapo Margot Masses Tochter Edith zum zweiten Mal abgeholt. &bdquo;Bei dieser Gelegenheit wurde mir mein Reisepass abgenommen und das Tragen meiner Schwesterntracht verboten, solange ich im jüdischen Hause wäre.“

Sie sei auf Schritt und Tritt bespitzelt und als &bdquo;Judenknecht“ und &bdquo;Judenschickse“ bezeichnet worden, klagt Elisabeth Mittelstenscheid. &bdquo;In den Kriegsjahren hatten wir oft jüdischen Besuch, was die Polizei veranlasste, häufig Recherchen vorzunehmen. Auch unsere Kartoffel- und Kohlenvorräte wurden oft kontrolliert, und bei jeder Gelegenheit wurde ich beschimpft, dass ich mich noch in jüdischem Hause befände.“ Es liegt auf der Hand, dass dafür nicht irgendwelche auswärtige Nazis, sondern Leute aus Schieder-Schwalenberg verantwortlich sind. &bdquo;Die Täter waren Menschen aus der bürgerlichen Gesellschaft“, Belege dafür hat der Blomberger Stadtarchivar Dieter Zoremba in vergleichbaren Fällen von Drangsalierungen jüdischer Mitbürger immer wieder gefunden.

Schikane durch die Nazis Offensichtlich versuchten jene Nazis, der Hausherrin am Zeug zu flicken: Dass die Kartoffeln im Winter 1941 nicht gerodet worden waren, weil die Hausbelegschaft die Ernte nicht geschafft hatte, sei ihr als Sabotage ausgelegt worden. &bdquo;Uns wurden 24 Stunden gegeben, die Kartoffeln zu roden – und dies am 24. Dezember.“ Am 24. Juli 1941 überschrieb Margot Masse ihrer Angestellten den gesamten Hausrat als Schenkung. Elisabeth Mittelstenscheid sah sich aufgrund ihrer Freimütigkeit durchaus im Fokus der Gestapo, sie habe immer eine Rasierklinge in ihrer Kleidung versteckt, &bdquo;denn freiwillig wäre ich nicht in ein Konzentrationslager gegangen.“ Das habe sie auch mit Margot Masse besprochen, &bdquo;und es war ihr eine Beruhigung, dass ich im Notfall von diesem Mittel Gebrauch machen konnte.“

Vertraglich sicherte die Hausbesitzerin der Krankenschwester zu, dass sie die Villa untervermieten dürfte, sie wollte &bdquo;ein Fremdenheim“ dort eröffnen. Daraus wurde nichts: Im Juli 1942 warf die Polizei sie hinaus &bdquo;man beschlagnahmte sämtliche Sachen und erteilte mir Hausverbot.“

Deportation nach Theresienstadt Zu diesem Zeitpunkt war Magot Masse schon nicht mehr in Schieder: Nach den Akten wurde sie zunächst am 17. Juli in eines der &bdquo;Judenhäuser“ in der Detmolder Sachsenstraße 4 und am 23. Juli 1942 in das KZ Theresienstadt im heutigen Tschechien deportiert. Wann sie dort gestorben ist, ist nicht bekannt: Am 9. Mai 1945 wird sie für tot erklärt. Wie zynisch das NS-System agierte, ergibt sich aus der Aufstellung, die 1955 ihr in die USA ausgewanderter Sohn von den Vermögenswerten seiner Mutter macht: Nach und nach hatte Margot Masse nicht nur diverse Wertpapiere, unter anderem der berüchtigten IG Farben, abgeben und eine sogenannte &bdquo;Reichsfluchtsteuer“ in Höhe von mehr als 18.000 Reichsmark entrichten müssen, sondern auch ihre &bdquo;Heimunterbringung“ in Theresienstadt mit 8.386 Mark bezahlen müssen.

Das war geübte Praxis, gaukelte den Deportierten vor, sie hätten mit dem Geld ihre Alterssicherung bezahlt. &bdquo;Man hatte ihnen vom ,Kurort Theresienstadt’, einem ,Reichsaltersheim’ erzählt“, heißt es in der Datenbank zum Ghetto Theresienstadt. &bdquo;Sie starben wie die Fliegen, Opfer eines großen Betrugs.“ Dort landete übrigens auch Emma Lipper, eine Jüdin aus Blomberg, zu deren Andenken jüngst erst ein Stolperstein vor ihrer letzten bekannte Behausung in der Neuen Torstraße verlegt worden ist. In Theresienstadt muss auch Margot Masse ihr Ende gefunden haben, gerade mal 51 Jahre alt.

Wechselnde Eigentümer Und ihre alte Villa in Schieder? – Neuer Eigentümer war zunächst das Deutsche Reich, die Umschreibung mit Stempel und Siegel findet sich im Grundbuchamt am 5. Oktober 1942.Nach Recherchen des Trägervereins von Haus Tabor nutzten die Nazis das Haus als Lazarett und Flüchtlingsheim. 1949 praktizierte hier auch ein Kieferchirurg, wie aus einem Beschwerdebrief vom November hervorgeht, denn der Mediziner verlangte mehr Platz für seine Praxis vom &bdquo;Kreisbeauftragten für gesperrtes Vermögen.“

Margot Masses Tochter Edith und ihr Bruder Ralph Harold Masse hatten es heil aus Nazi-Deutschland herausgeschafft und waren nach San Francisco ausgewandert, von dort stellten sie ihr Wiedergutmachungsbegehren und erhielten das Haus tatsächlich zurück: Sie sind als Erbengemeinschaft ab November 1950 im Grundbuch geführt.Doch 1954 müssen sie die Villa verkauft haben, und bis 1967 sind noch vier weitere Besitzer im Grundbuch eingetragen. Sie diente als Hotel, dann als Gastwirtschaft und schließlich unter der Leitung der Familie Elis als vegetarisches Erholungsheim mit dem Namen ,Haus Eden’.

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