Bielefeld. Das Thema Datenschutz ist auch Menschen- und Gesellschaftsschutz - diese Haltung vertritt der Digitalcourage-Mitbegründer Padeluun. „Wenn ich sicher sein kann, dass mit meinen Daten kein Schindluder getrieben wird, ist es weitaus besser möglich, diese Daten auch zu nutzen", sagt der Netzaktivist. Ein aktuelles, positives Beispiel dafür sei die Corona-Warn-App. Kritisch hingegen sehen Padeluun und Rena Tangens, ebenfalls Mitbegründerin des Datenschutz-Vereins, die Corona-Gästelisten. Diese werden beispielsweise in der Gastronomie ausgegeben und sollen der Kontaktnachverfolgung dienen. „Die Leute tragen sich dort guten Willens ein, und später erfährt man, dass die Polizei auf eben diese Listen genauso zugreift", sagt Tangens. Solche Zugriffe sind in Rheinland-Pfalz, Bayern und Hamburg bekannt geworden. Tangens: „Die Bereitschaft, sich dann mit echten Daten einzutragen, sinkt dann natürlich." Doch auch einige Unternehmen profitieren von der Pandemie - und missachten dabei das Thema Datenschutz, so der Vorwurf. Digitalcourage hat dafür wieder Datensünde und Datenschutz-Gegner mit dem Negativpreis „Big Brother Award" ausgezeichnet. Bereits seit dem Jahr 2000 vergibt der Verein die Awards. Am Freitagabend wurden die fünf diesjährigen Preisträger in der Hechelei in Bielefeld vorgestellt. "Gesundheit": Doctolib Das Unternehmen Doctolib ermöglicht eine Online-Terminbuchung bei Ärzten jeglicher Fachrichtung. Gegründet in Frankreich, ist Doctolib seit 2016 auch auf dem deutschen Markt vertreten. Nach eigener Auskunft hat der Dienstleister mehr als 50 Millionen Patienten vermitteln können. In Berlin hat Doctolib zudem die Vergabe der Covid-Impftermine übernommen. „Die Software ist eine massive Erleichterung", sagt Thilo Weichert. Beim Datenschutz sehe er jedoch kritische Mängel. „Wenn ein Arzt mit Doctolib zusammenarbeiten will, installiert ein Mitarbeiter die Software auf den Praxis-PC", berichtet der Datenschützer. Dabei werden unter anderem auch Patienten-Stammdaten übertragen. Doch die Patienten werden darüber nicht informiert und haben zumeist gar keinen Kontakt zu Doctolib selbst. Zudem sei nicht klar, inwiefern das Unternehmen nicht auch gesundheitsbezogene Daten speichert. Möglicherweise werden Diagnosen übermittelt oder es lässt sich aufgrund von der Facharzt-Richtung Schlüsse auf das Krankheitsbild ziehen. „Das sind alles Daten, die es für eine simple Terminbuchung nicht braucht", sagt Weichert. Obwohl sich Doctolib zum Datenschutz bekennt, verwendet es laut Digitalcourage die Daten zudem auch für Werbung und Marktforschung. Dafür gibt es vom Bielefelder Datenschutz-Verein einen „Big Brother Award". "Verkehr": EU-Kommission Der Zweck hinter diesem Projekt ist eigentlich ein guter - in der Umsetzung gebe es allerdings Mängel. Laut einer EU-Verordnung müssen alle Neuwagen mit einem On-Board Fuel Consumption Monitoring (OBFCM, eingebaute Brennstoffverbrauch-Überwachung) ausgestattet sein. Bei Autos, die 2021 zugelassen worden sind, soll das System schon verbaut sein. Der Hintergrund: Die EU will den tatsächlichen Verbrauch unter realen Bedingungen ermitteln. Das System sammelt die dafür benötigten Daten und überträgt diese über Mobilfunk weiter. Allerdings nicht an eine EU-Behörde, sondern an die Automobilhersteller selbst. Erst diese sollen die Informationen im Anschluss weiterleiten. Den Herstellern werden so wichtige Daten, inklusive der Identifikationsnummer des Fahrzeugs, übermittelt. Für das Sammeln dieser Informationen bräuchten die Automobilkonzerne bislang eine Einwilligung. „Jetzt gibt es die dank EU-Verordnung frei Haus", sagt Frank Rosengart vom Chaos Computer Club. Autofahrer werden aufgrund solcher Telematikdienste immer gläserner - und Datenschutz bleibe auf der Strecke. Mit der EU-Verordnung werde dies weiter ein Stück Realität. Daher erhält die EU-Kommission den Negativpreis für die Kategorie „Verkehr". "Bildung": Proctorio „Die Pandemie war für das Münchner Unternehmen ein absoluter Glücksfall", sagt Thilo Weichert. Denn in Zeiten von Online-Klausuren bietet Proctorio ein Rundumpaket digitaler Prüfungskontrolle. Die Prüflinge müssen sich dafür die Software auf den eigenen PC laden. Die greift dann auf sämtliche Applikationen zu und verhindert Downloads - sodass die Prüfenden nicht nebenbei nach Informationen schauen können. Vorab scannt die Software den Raum auf mögliche Fremdquellen. Während der Prüfung überwacht die Kamera zusätzlich noch das Gesicht der Prüflinge. Eine KI wertet dann aus, ob geschummelt wird - und meldet einen möglichen Verstoß der Prüfungsaufsicht. Mit dem Raumscan dringe das Unternehmen in die Privatsphäre der Prüflinge ein. Zudem werde der Stress aufgrund der permanenten Überwachung in der Prüfungssituation nochmal erhöht. „Wir denken, dass hier gegen grundlegende Prinzipien des Datenschutzes verstoßen wird", sagt Weichert. Für Proctorio bedeutet das also den Datensünder-Oscar in der Kategorie "Bildung". "Was mich wirklich wütend macht": Google In diesem Jahr gibt es mit „Was mich wirklich wütend macht" eine neue Kategorie, die Tangens präsentiert. Wenn es nach ihr gehe, bekäme das digitale „krakige Ökosystem" den Negativpreis. Stellvertretend dafür bekommt „der größte Fisch in diesem Manipulationsimperium" den "Big Brother Award" zugesprochen: Google. Tangens ist wütend über die Praxis, dass Cookie-Banner nur darauf abzielen, auf „okay" zu klicken. Wer damit nicht einverstanden ist, muss häufig jedes Feld einzeln abwählen. Alles sei darauf ausgelegt, dass Nutzer direkt zustimmen. Um den Cookie-Zustimmungen auf jeder einzelnen Website zu umgehen, will Google nun ein neues Geschäftsmodell einführen, so Tangens. Mit „FLoC" (Federated Learning of Cohorts) werde ein neues System eingeführt. Aufgrund des Nutzungsverhaltens im Internet sollen User in Gruppen eingeteilt werden. So kann die Werbung weiterhin gruppenspezifisch personalisiert werden. Tangens sieht darin einen weiteren Vorstoß, den digitalen Werbemarkt zu bestimmen. „Dafür sprechen auch die Dokumente, die Manipulationen von Werbe-Auktionen bestätigen", sagt Tangens. Google musste die nämlich einem Gericht in Texas vorlegen. Außerdem gebe es einen Deal mit Facebook. Dem größten Sozialen Netzwerk sollen zehn Prozent der Auktionsgewinne versprochen worden sein. „In der Wirtschaft nennt man das Insider-Handel", sagt Tangens. Für die Künstlerin und Aktivistin Gründe genug, dem Tech-Konzern einen Award und eine sogar eigene Kategorie zu widmen. "Public Intellect": Julian Nida-Rümelin „In dem vergangenen Jahr gab es ja einige Corona-Irrungen", sagt Netzaktivist Padeluun. Eine davon sei die Aussage, dass Menschen aufgrund von Datenschutz sterben müssen. Diese Ansicht vertrete unter anderem der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Julian Nida-Rümelin. Bei Gesprächen im SWR und bei Anne Will gab der Philosoph dem Datenschutz Schuld an ineffizienter Pandemiebekämpfung. „Diese Behauptung ist völlig faktenlos, doch Herr Nida-Rümelin hält an dieser Aussage fest", begründet Padeluun den Negativpreis. „Da sehe ich keine Lernkurve." Im Zusammenhang mit Corona habe er einige „Dummschwätzer" entlarven können. Dennoch plädiert er für mehr Barmherzigkeit, „auch für Querdenker". Denn es müsse immer gezeigt werden, dass der Verstand auch genutzt werden will.