Fall Lügde: Gutachten zeigt "Kultur der Hilfeverhinderung" beim Jugendamt Höxter auf

Höxter/Kreis Höxter. 4.000 Seiten umfasst der Parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Missbrauchskomplex auf dem Campingplatz bei Lügde. 800 Seiten davon haben mit der Arbeit des Jugendamts des Kreises Höxter zu tun – oder vielmehr dessen Unterlassen. Denn darin habe gewissermaßen das Hauptproblem bestanden, dass das Jugendamt seine Hauptenergie darauf verwendet hat, Argumente zu finden, um Hilfen zu verhindern, statt sie in die Wege zu leiten: Der Sozial- und Erziehungswissenschaftler Christian Schrapper hat im Kreissozialausschuss sein Abschlussgutachten zum Jugendamtsversagen im Fall Lügde vorgelegt. Es wurde zu einer 90-minütigen Standpauke, bei der auch die Ausschusspolitiker nicht ungeschoren davonkamen.

Schrapper sprach von einer &bdquo;Kultur der restriktiven Gewährung von Hilfeleistungen". Das sei in den Mitarbeitergesprächen besonders deutlich geworden. &bdquo;Sie haben mir erzählt, dass sie natürlich gewusst hätten, was zu tun ist. Aber das hätte ja dann Geld gekostet und wäre von der Behördenleitung abgelehnt worden, die Schere im Kopf war der ständige Begleiter im Kinderschutz", beschrieb Schrapper das Behördenverhalten.

Wer aber trägt nun die Verantwortung? Namentlich ging der Vorwurf vor allem an den ehemaligen Landrat Friedhelm Spieker und den ehemaligen Jugendamtsleiter Gerhard Handermann. Schrapper betonte, dass es nicht um persönliche Schuldzuweisungen gehe, sondern um die strukturelle Situation. &bdquo;Das mögen fähige Verwaltungsfachkräfte sein. Aber so eine Abteilung funktioniert nicht, wenn es an der Fachexpertise im Kinderschutz fehlt. Das wird hier sehr deutlich, denn auch wenn ich zehn und zwölf Jahre zurückgehe, finde ich dort nur Verwaltungsfachleute, aber niemanden, der sich wirklich in den Belangen des Kinderschutzes ausgekannt hätte", sagte Schrapper.

Und das sei verheerend für so eine Abteilung, insbesondere den sogenannten Allgemeinen Sozialen Dienst, der auch für die Lügde-Fälle zuständig war und gerufen wird, wenn es um akute Kindeswohlgefährdung geht. &bdquo;Man muss sich das wie die Feuerwehr vorstellen: Wenn es brennt, geht es los. Und es geht um den Schutz von Kindern, das sind keine Akten, die man sich auf Wiedervorlage in zwei Wochen legen kann, wenn es besser passt", sagte Schrapper.

Weitreichende Forderungen Das Jugendamt des Kreises Höxter auf Vordermann zu bringen, wird eine Stange Geld kosten. Schrapper forderte die Einstellung von zwei Kinderschutzfachkräften für die konzeptionelle Weiterentwicklung und als Unterstützung in der Fallarbeit. Außerdem müsse eine Personaldecke von 115 Prozent des Schlüssels angestrebt werden. &bdquo;Es gibt in diesem Bereich eine hohe Fluktuationsquote, was der Natur der Sache geschuldet ist. Aber wir können uns hier keine Vakanzen erlauben, weshalb mit einem proaktiven Einstellungsmanagement gearbeitet werden muss", sagte Schrapper.

Auch der Sozialausschuss trage eine Mitverantwortung: &bdquo;Sie hätten schon viel früher erkennen können, dass hier etwas grundverkehrt läuft und widersprechen müssen", sagte Schrapper. Auch baulich sei das Jugendamt unzureichend aufgestellt und müsse nachgebessert werden. &bdquo;Wir wollen als Kreis Höxter zu den Besten gehören und werden uns der Aufgabe stellen. Allerdings wird das ein Marathon, für den es auch Zeit benötigt", sagte Landrat Michael Stickeln. Anders als bei seinem Vorgänger sei der Kinderschutz beim ihm nun &bdquo;Chefsache", betonte Stickeln, der sich auch für dieses Gutachten eingesetzt hatte.

Als Schrapper vor einem Jahr seine Arbeit aufgenommen hatte, war er noch als Inquisitor verschrieen. Inzwischen hat sich das Bild gewandelt. Christian Schrapper: &bdquo;Wir suchen nicht nach Schuldigen, sondern nach Lösungen."

Christian Schrapper (70) ist Professor am Institut für Pädagogik an der Universität Koblenz. Seine Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Geschichte sozialpädagogischer Handlungsfelder, Fragen der Planung und Organisation in Jugendämtern und Sozialen Diensten, der Sozialberichterstattung sowie der Konzeption und Methodik sozialpädagogischer Diagnostik und der Kinderschutzarbeit. Seit den 1980er-Jahren befasst sich Schrapper mit der Untersuchung von Rahmenbedingungen und Entscheidungsprozessen in kommunalen Jugendämtern. Christian Schrapper ist Vorsitzender des Trägervereins des Instituts für Arbeitsforschung (ISA) in Münster, das vom Kreis für das Gutachten beauftragt worden war.

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