Wenn das Kind nicht mehr zur Schule will: "Viele Eltern unterstützen das"

Frau Brandtmann, als Erstes müssen wir klären: Was sind Schulverweigerer? Viele haben da eine falsche Definition, oder?

Bernadette Brandtmann: Ja, sie denken dabei an das Schuleschwänzen, das jeder irgendwann mal gemacht hat. Darum geht es aber nicht. Schulabsentismus ist eine dauerhafte Schulvermeidung, die eine Gefährdung für eine gesunde Entwicklung darstellt, und nur noch sehr schwer zu behandeln ist, wenn sie sich chronifiziert hat. Es gibt unterschiedliche psychische Erkrankung, die in einer Schulvermeidung resultieren können zum Beispiel soziale Ängste, Depression oder Anpassungsstörungen.

Und sie ist weit verbreitet?

Joana Langenbrinck: Ja, Schulverweigerung hat nach Corona stark zugenommen. Und wir reden hier nicht nur von Schülern aus sozial benachteiligten Familien, sondern vom Mittelstand und auffällig vielen Gymnasiasten. Besorgniserregend ist auch, dass die Schulvermeidung jetzt oftmals schon im frühen Grundschulalter beginnt.

Worauf führen Sie das zurück?

Brandtmann: Bei Grundschulkindern geht es viel um Trennungsangst. Die Loslösung von Mutter oder Vater fällt vielen Kindern zunehmend schwerer, das hat auch mit der Pandemie zu tun. Hinzu kommen Angst vor Leistungsversagen und Ängste, sich in einer Klasse zurechtzufinden, das betrifft auch Jugendliche.

Joana Langenbrinck: Das Problem ist, dass gerade in der Grundschule viele Eltern das Verhalten ihrer Kinder häufig unbewusst unterstützen. Denen tut ihr Kind in seiner Angst dann so leid, dass sie ihm die Situation ersparen wollen. Viele bekommen auch Zweifel am System Schule. Oder das Kind hat die typischen somatischen Beschwerden wie Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen und scheint krank zu sein. Anderen ist nicht klar, dass Schule nicht nur ein Lernort ist, sondern auch ein Ort für soziale Kontakte und dass natürlich auch eine Schulpflicht besteht.

Aber die Schulen müssen das Fehlen doch melden, es gibt doch eine Schulpflicht.

Brandtmann: Ja, aber wir haben keine Vorgaben oder Definitionen, ab wann jemand offiziell ein Schulvermeider ist. Das heißt, manche Schulen melden sich sofort, wenn Kinder ein paar Mal nicht da waren, andere erst nach zwei Jahren. Das ist natürlich viel zu spät.

Langenbrinck: Auch Eltern reagieren oft viel zu spät, weil sie die Hoffnung haben, dass das nur eine Phase ist, die nach einiger Zeit einfach wieder besser wird. Es fällt ihnen verständlicherweise schwer, einzugestehen, dass Schulvermeidung ein großes Problem ist, und die Eltern und das Kind Unterstützung benötigen.

Wann sollte man reagieren?

Langenbrinck: Sobald Eltern merken, dass das Thema Schule für die Familie eine Belastung darstellt. Wenn das Kind oder die oder der Jugendliche Angst hat, abends nichts einschlafen kann, weint, somatische Beschwerden hat wie Bauchschmerzen, Kopfschmerzen. Und wenn der Schulbesuch unregelmäßiger wird.

Und dann also besser keine Schonfrist zu Hause ermöglichen?

Brandtmann: Je länger das Kind oder der Jugendliche von der Schule fernbleibt, desto schwerer wird die Rückkehr. Oft kommen noch zusätzliche Sorgen dazu: Wie reagieren die Mitschüler oder die Lehrer auf die Fehlzeit? Oder Angst, den Schulstoff nicht mehr aufzuholen. Kinder können nur in der Schule ankommen, wenn sie auch regelmäßig da sind. Es ist wichtig, dass die Eltern versuchen ihre Kinder zu verstehen und ernst zu nehmen, aber auch gleichzeitig vermitteln, dass ein Schulbesuch notwendig ist und es eine Schulpflicht gibt.

Aber viele Eltern empfinden das vielleicht als Verrat an ihrem Kind, es sozusagen "auszuliefern".

Brandtmann: Deshalb ist es wichtig, ganz früh den Kontakt und den Austausch mit der Klassenleitung zu suchen, dort zu melden, wie es dem Kind geht, was es stresst, sich auch zu informieren: Wie ist die Situation vor Ort, gibt es Konflikte, ist der Leistungsdruck zu hoch?

Langenbrinck: Natürlich sollen Eltern aber auch die Ängste ihres Kindes nicht kleinreden, sondern ihm vermitteln: Ich sehe, dass du Angst hast, wir helfen dir. Und es ist natürlich wichtig, genau zu gucken, ob nicht eine reelle Angst vor Ort hinter den Problemen steckt, eine Mobbingsituation zum Beispiel.

Sollten Eltern denn das Kind notfalls mit Gewalt in die Schule zwingen?

Brandtmann: Wichtig ist, eine Trennungssituation niemals in der Schule eskalieren zu lassen. Kurzfristig kann man dem Kind Sicherheit geben, indem man ihm versichert, dass man draußen vor der Schule wartet, dass man da ist. Das sollte sich aber nicht über eine längere Zeit hinziehen. Besser wäre, die Trennung schon zu Hause zu vollziehen und das Kind von einem Freund abholen zu lassen. Bei Jugendlichen sind die Handlungsmöglichkeiten der Eltern deutlich eingeschränkter. Jugendliche sind häufig durch die anstehenden Entwicklungsaufgaben (zum Beispiel Identität, Zukunftsplanung, Ablösung) überfordert und ziehen sich durch Medienkonsum in eine Parallelwelt zurück, um ihre negativen Emotionen zu regulieren.

Langenbrinck: Und parallel sollte man sich unbedingt Hilfe beim ambulanten Therapeuten oder einer Beratungsstelle suchen – und zwar gemeinschaftlich als Familie, denn es betrifft immer das ganze Familiensystem. Wir arbeiten deshalb immer auch mit den Eltern und erleben oft, dass auch sie mit der Situation zu tun haben. Etwa, weil sie sich nicht von ihrem Kind trennen können. Oder selbst eine schlechte Schulzeit hatten und deshalb nicht hinter dem Lernort Schule stehen. Das überträgt sich natürlich.

Für viele Familien ist das bestimmt eine große Hürde, oder?

Brandtmann: Erst mal ja. Aber meist hilft es tatsächlich, sich einzugestehen: Wir haben hier ein großes Problem, für das wir Raum schaffen müssen. Und dann systematisch vorzugehen: Ein Gespräch mit der Schule suchen. Parallel einen Therapeuten kontaktieren. Wichtig ist auch, mit dem Arbeitgeber zu sprechen, um den eigenen Stress zu verringern. So eine Situation ist wahnsinnig anstrengend, das ist eine Spirale aus Stress, Streit, die die ganze Familie destabilisiert. Hier braucht es eine Unterstützung von einem Netzwerk, das Problem kann nicht alleine die Schule lösen und die Eltern ebenfalls nicht.

Sie haben auch den Leistungsdruck angesprochen.

Brandtmann: Wir sehen hier oft, dass Eltern einen hohen Anspruch haben und große Sorge um den sozialen Abstieg der Kinder. Deshalb ignorieren viele mittlerweile die Schulempfehlungen aus der Grundschule und schicken ihr Kind aufs Gymnasium – wo es durch den Druck zunehmend belastet wird. Das klappt vielleicht noch in der fünften und sechsten Klasse und dann wird die Überforderung deutlich. Viele dieser Schüler sehen wir dann hier.

Langenbrinck: Viele Kinder und Jugendliche sind von psychischen Erkrankung betroffen. Diese ganze Situation wird aber auch von der Bildungskrise und vom System verschärft.

Wie meinen Sie das?

Langenbrinck: Die Schullandschaft müsste sich auf die Bedürfnisse der Schüler einstellen und psychische Erkrankungen dabei auch berücksichtigen. Studien zeigen klar: je größer die Schule, desto höher die Zahl der Schulverweigerer. Bedeutend für ein gutes Schulklima ist ein guter persönlicher Kontakt zwischen Schülern und Lehrkräften. Der Trend geht aber zu großen Schul-Komplexen. Viele Schulen müssten außerdem viel sensibler und akribischer mit dem Thema Absentismus umgehen, dies wird jedoch aufgrund mangelnder Ressourcen erschwert. Untersuchungen zeigen klar: Gutes Lernen ist immer auch eine Frage der Bindung.

Aber dann wird sich die Situation mit dem Lehrermangel ja noch weiter verschlechtern.

Brandmann: Davon muss man ausgehen, ja. Zumal wir auch den gravierenden Erziehermangel in den Kitas haben. Schon jetzt nehmen Amtsärzte bei der Schuleingangsuntersuchung viel mehr Auffälligkeiten wahr als noch vor ein paar Jahren. Wir brauchen Betreuungs- und Schulsysteme, in denen die Kinder psychisch gesund bleiben. Wenn wir jetzt nicht anfangen, die Situation für die Kinder zu verbessern, dann werden wir langfristig auch das Problem Fachkräftemangel überhaupt nicht mehr in den Griff bekommen.

Langenbrinck: Eine chronische Schulverweigerung ist nur noch sehr schwer zu behandeln und ein geregelter Alltag ist diesen Jugendlichen kaum noch möglich.

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