Mutter von getötetem Philipos: „Ich möchte dem Täter in die Augen sehen“

Rinteln/Minden. Eine Cola-Dose in der einen, das Handy in der anderen Hand und ein strahlendes Lächeln im Gesicht. So steht Joanna Steinmann in den Mittagsstunden des 22. Juni auf dem Friedensplatz in Minden. Neben ihr grinst ein junger Mann mit längeren schwarzen Haaren in die Kamera. Es ist eines der letzten gemeinsamen Fotos von Philipos Tsanis und seiner Mutter. Wenige Stunden nach der Aufnahme soll ihn ein 18-jähriger Syrer geschlagen und getreten haben. Drei Tage später stirbt der Angegriffene im Mindener Klinikum.&bdquo;Es ist unverzeihlich“, sagt die 48-Jährige wenige Wochen nach der Tat im Gespräch mit dem MT. Sie hofft auf die Höchststrafe für den Tatverdächtigen. Und es ist ihr ein Anliegen, auf das viel zu kurze Leben ihres Sohnes öffentlich zurückzuschauen.

Polizeiliche Ermittlungen abgeschlossen Über die Konsequenzen für den Tatverdächtigen wird voraussichtlich am Landgericht Bielefeld verhandelt. Wie Polizeisprecherin Carolin Steffen erklärt, hätten die Kollegen der Mordkommission &bdquo;Palais“ aus Bielefeld die Ermittlungen abgeschlossen und die Akten bereits an die Staatsanwaltschaft weitergegeben.

&bdquo;So schnell wie möglich“, solle die Anklage erhoben werden, teilt der zuständige Staatsanwalt Christoph Mackel auf MT-Anfrage mit. Die müsse jedoch erst zugelassen und dem Verteidiger des Tatverdächtigen zugestellt werden. &bdquo;Das wird ein paar Wochen dauern“, so der Ankläger. Er betont, dass es keine weiteren Erkenntnisse gebe. Der 18-Jährige sitze weiter in U-Haft in der JVA Herford und habe sich bislang in keiner Weise zu den Geschehnissen geäußert.

Ob er dies vor Gericht tun wird, ist ungewiss. Für Joanna Steinmann ist jedoch klar, dass sie dem Prozess beiwohnen wird. &bdquo;Ich werde an jedem Termin teilnehmen“, kündigt die Mutter von Philipos an. Sie wolle dem Menschen, der mutmaßlich für den Tod ihres Sohnes verantwortlich ist, in die Augen sehen: &bdquo;Er soll sehen, was er angerichtet hat.“ Steinmann hofft, dass der Tatverdächtige die höchstmögliche Strafe bekommt und dass die Tat ihn bis an sein Lebensende verfolge. Steinmann wird als Nebenklägerin auftreten und von der Anwaltskanzlei Grotjohann und Kollegen aus Porta Westfalica vertreten. Das bestätigt Rechtsanwalt Thorsten Haupt: &bdquo;Wir haben Akteneinsicht beantragt, aber sie noch nicht zugestellt bekommen.“

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&bdquo;Ich frage mich immer wieder: warum?“, sagt Steinmann, die den Tatabend zusammen mit ihrem Sohn verbracht hat. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, ihrer Schwester und ihrem Ex-Mann feiern sie den Abiball der ältesten Tochter im Bad Oeynhauser GOP. Nur zehn Minuten vor der Attacke sieht sie ihn ein letztes Mal lebend. &bdquo;Er ist zusammen mit zwei Freunden rausgegangen, um zu rauchen“, berichtet Steinmann. Als sie das nächste Mal vor die Tür tritt, sieht sie Polizei, Rettungsdienst und einen abgesperrten Tatort. &bdquo;Ich weiß nicht, warum, aber ich wusste sofort, dass etwas mit Philip passiert ist“, erinnert sie sich.

&bdquo;Lebt er noch?“, fragt die Mutter eine Polizistin Sie rennt sofort los, durchbricht die Absperrung und wird zunächst von Polizisten festgehalten. &bdquo;Sie wussten ja nicht, dass ich die Mutter bin.“ Die Sekunden kommen ihr wie Stunden vor, ihr Sohn wird zu diesem Zeitpunkt im Rettungswagen behandelt. &bdquo;Lebt er noch?“, fragt sie eine Polizistin. Die rät, sofort ins Krankenhaus zu fahren.

Zeitgleich mit dem Rettungswagen kommt sie mit ihrer Familie dort an. Ein Arzt teilt ihnen dort mit, dass ihr Sohn schwerste Hirnblutungen habe. &bdquo;Die Chancen, dass er überlebt, sind sehr schlecht“, dieser Satz brennt sich in Steinmanns Gedächtnis ein. &bdquo;Wir haben gebetet, aber mir war da schon klar, dass er es nicht schaffen wird.“ Noch vor der Not-Operation sieht die 48-Jährige ihren Sohn und verabschiedet sich das erste Mal von ihm.

Drei Tage später, am 25. Juni, wird sie es noch einmal tun. Nun endgültig. Zuvor werden ihrem Sohn Organe für eine Spende entnommen: &bdquo;Wenn Philips Tod schon so sinnlos war, dann soll er wenigstens anderen Menschen zu leben helfen.“ Seit der Beerdigung am 13. Juli besucht sie das Grab auf dem Hausberger Friedhof regelmäßig. Sie hat dort mit Steinen ein Herz geformt. Freunde von ihm seien auch oft dort. Sie platzierten als Erinnerung eine Flasche Weißwein, Zigaretten und einen Energydrink. Dinge, die ihm wichtig und lieb waren.

Steinmann sagt Philip zu ihrem Sohn und unter diesem Namen kennen ihn auch die meisten Menschen. &bdquo;Philip und Pi wurde er genannt – und von den Musikern Swagboipi“, sagt Steinmann. Sie ist gebürtige Polin, der Vater von Philipos Grieche. &bdquo;Philip selbst hat aber weder Griechisch noch Polnisch gesprochen, sondern Deutsch und Englisch. Er ist gebürtiger Deutscher“, sagt seine Mutter. Immer wieder hat sie sich darüber gewundert, dass ihr Sohn in der offiziellen Mitteilung der Polizei und den Medienberichten als Mindener bezeichnet wurde.Dort allerdings war er gemeldet, hatte kurz zuvor seine erste eigene Wohnung bezogen. Er arbeitete im Hotel Kronprinz unweit des Bahnhofs und sollte dort ab Oktober eine Ausbildung starten. &bdquo;Ein vernünftiges Standbein neben der Karriere als Musiker“, sagt die Mutter. Sie ist selbst Künstlerin, führt nun aber zusammen mit ihrem Verlobten einen Malerbetrieb. &bdquo;Deswegen hatte ich auch immer Verständnis dafür, wenn er die ganze Nacht produziert hat“, so Steinmann.

Aufgewachsen in Hausberge &bdquo;Er ist ein Portaner Junge“, sagt die 48-Jährige, die inzwischen mit ihrem Verlobten in Rinteln wohnt. Aufgewachsen sei Philipos in Hausberge, habe dort die Realschule bis zu seinem Abschluss besucht. 14 Jahre lang habe Joanna Steinmann dort zusammen mit ihren Kindern und dem Stiefvater gelebt: &bdquo;Er ist auch am Boden zerstört.“ Mit ihm hat die 48-Jährige einen gemeinsamen Sohn (13) und neben Philipos und seiner jüngeren Schwester (18) noch einen 26-jährigen Sohn, der wie sie in Polen geboren ist und aus einer früheren Beziehung stammt.

&bdquo;Viele Menschen haben erst später realisiert, dass es unser Philip war, der umgebracht worden ist“, sagt Steinmann. Das sei in der ohnehin schon schweren Zeit nochmals belastend für sie gewesen. Sie habe sich übergangen und allein gelassen gefühlt – besonders als sie und ihre Familie plötzlich bedroht wurde.

&bdquo;Ein Artikel aus dem MT über mich als Flüchtlingshelferin im Ukraine-Krieg ist falsch übersetzt worden. Es hieß, ich hätte mich für arabische Flüchtlinge engagiert und wurde in Polen massiv angefeindet“, berichtet sie. Über soziale Netzwerke und Mails seien Drohungen eingegangen. Die Inhalte reichten von der Androhung des Todes bis hin zur Vergewaltigung. &bdquo;Die Polizei hat dann hier bei uns in Rinteln verstärkt kontrolliert“, sagt sie. Zu diesem Zeitpunkt sei sie mehrfach zusammengebrochen und nehme noch immer Opferschutzhilfe in Anspruch.

Die Musik sei seine große Leidenschaft gewesen, sagt Joanna Steinmann über ihren Sohn: &bdquo;Sowohl von ihm als auch von seiner Schwester.“ Während die 18-Jährige Sängerin ist, hat Philipos gerappt und auch für namhafte Künstler produziert. &bdquo;Er wollte noch nicht im Mittelpunkt und auf der Bühne stehen“, sagt sie und unausgesprochen schwingt mit, was daraus noch hätte werden können. &bdquo;Lange bin ich nicht mehr da, bitte leg meinen Laptop mit in mein Grab“, diese Zeile singt er in seinem Song &bdquo;Komme nicht mehr klar“. Keine drei Jahre später ist er tot.

Es bedrückt Steinmann, dass es sich um eine Karriere handelt, die niemals Wirklichkeit werden wird. &bdquo;Er war talentiert“, sagt Steinmann. 17 Alben würden sich allein auf seinem Computer befinden, die sie posthum veröffentlichen lassen möchte: &bdquo;Als Andenken an Pi.“ Einige seiner bereits veröffentlichten Werke wie der Song &bdquo;Wein“ sind auf dem Dienst &bdquo;Spotify“ mehr als 100.000 Mal gehört worden.

Mehr als 4.000 Menschen hören die Musik von Philipos Tsanis dort monatlich. In seinem Profil steht: &bdquo;The darkness may destroy my body, but it cant touch my heart“ (&bdquo;Die Dunkelheit mag meinen Körper zerstören, aber sie kann mein Herz nicht berühren“).

Der Tod des 20-Jährigen hat in der Rap-Szene für große Anteilnahme gesorgt &bdquo;Die Welt verliert einen weiteren unfassbar talentierten Musiker mit dir. Ruhe in Frieden“, schreibt Künstler &bdquo;Kaos.Beats“. Es ist eine der unzähligen Kondolenzen auf dem Instagram-Profil von &bdquo;Swagboipi“.

Die Anteilnahme aus der breiten Öffentlichkeit hat Joanna Steinmann und auch die väterliche Seite der Familie sehr bewegt. &bdquo;Ich möchte mich bei allen bedanken, die an uns gedacht haben“, sagt sie mit Blick auf die bewegende Beerdigung oder die Spendenaktion, die von Mitschülern ihrer Tochter organisiert worden war. Die gesammelte Summe soll unter anderem für die Trauerfeier genutzt werden und den Opfern und Hinterbliebenen zustehen.

Doch das Mitgefühl, die Spenden und lieben Worte bringen Steinmann ihren Sohn nicht zurück. &bdquo;Er war mehr als 20 Jahre Teil meines Lebens. Ich habe ihn in mir getragen“, sagt die 48-Jährige, während sie um Fassung ringt. Nie mehr werde Philipos bei ihr sein, nie werde sie auf mögliche Enkelkinder von ihm aufpassen können. &bdquo;All das wurde mir genommen. Seinen Geschwistern wurde der Bruder entrissen. Und ihm sein Leben.“

Bewegende Worte der Familie &bdquo;Die herzliche Anteilnahme so vieler Menschen beim Abschied von Philipos erfüllt unsere Familie mit großer Dankbarkeit. Es tröstet, zu wissen, dass wir mit unserer Trauer nicht alleine sind“, schreibt die Cousine des Getöteten.

&bdquo;Im Herzen halten wir alle Briefe, Blumen, Spenden und andersartige Gesten, die dazu beigetragen haben, die Beerdigung von Philipos so zu gestalten, wie er es verdient hat.“

&bdquo;In einem seiner Lieder sagte er: &bdquo;The darkness may destroy my body. But it can’t touch my heart“. Und so glauben wir fest daran, dass Philipos für immer ein Teil von uns bleiben wird.“

&bdquo;Es ist ein Geschenk zu wissen, wie viele Menschen um ihn trauern, wie vielen er wichtig ist, war und zu spüren, dass diese Gewalt keinen Platz in unserem Leben verdient. Man findet immer noch keine Worte für diese schreckliche Tat.“

&bdquo;Danke an alle, die da waren. Danke an alle, die da sind.“

Er fehlt uns sehr.

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