Warum ein Bielefelder Kinderarzt die Sprechzeit für Kassenpatienten kürzt

Herr Heidemann, Sie nehmen in Ihrer Kinderarztpraxis teilweise nur noch Privatversicherte und Selbstzahler auf. Da schnappen viele angesichts des massiven Kinderärztemangels in Bielefeld nach Luft.

Marcus Heidemann: Genau. Weil da gleich der Vorwurf im Raum steht, dass ein Kinderarzt, der so vorgeht, sich an der Grundversorgung von Kindern bereichert. Das ist nicht der Fall. Hier geht es nicht um Gewinnmaximierung. Es geht auch nicht darum, meine Praxis in eine Privatpraxis umzuwandeln. Aber ich muss und möchte ein System anbieten, in dem Patienten jederzeit vernünftige Medizin bekommen – und das für mich dabei noch rentabel ist.

Wie hoch ist denn der Anteil der Privatversicherten und Selbstzahler unter Ihren Patienten?

Ich möchte circa 50 Prozent meiner Praxiszeit für die Termine außerhalb der Kassensprechstunde verwenden. Jeder Patient hat somit die Möglichkeit, bei Bedarf oder auch regelmäßig Termine zu erhalten, in denen Medizin anders und zeitunabhängiger möglich ist.

Und die andere Hälfte der Praxiszeit?

Den Rest der Zeit verwende ich für Patienten, die es sich aus finanziellen Gründen nicht leisten können, eine Zusatzversicherung abzuschließen, oder die aufgrund von schweren Vorerkrankungen keine Chance haben, eine zu erhalten. Bei denen spare ich auch weder an Zeit, noch an Medikamenten, noch an Verordnungen – auch wenn die Kassen längst nicht alles bezahlen. Das kann ich aber nur so machen, wenn ich andere Leistungen nicht mehr verschenke an Menschen, die diese Geschenke finanziell nicht nötig haben.

Vor knapp zwei Jahren wurden nach einer Protestwelle wichtige Änderungen bei der Vergütung der Kinderärzte vorgenommen. Hat Ihnen das wirtschaftlich nichts gebracht?

Geändert hat sich, dass uns die Preise nun voll ausbezahlt und nicht mehr budgetiert werden. Die Preishöhe an sich aber ist nicht verändert worden. Deshalb entspricht die Bezahlung bei vielen Leistungen nicht dem, was es braucht, um Patienten realistisch zu versorgen.

Nennen Sie doch bitte mal ein Beispiel.

Nehmen wir mal die Quartalspauschalen, die wir für praktisch jeden Patienten, der in unsere Praxis kommt, einmal erhalten. Die beträgt bei einem Kind von fünf bis 18 Jahre 17,60 Euro. Hinzu kommt eine Pauschale für die hausärztliche Betreuung von 17,10 Euro. Da ist dann die gesamte Grundversorgung der Patienten drin, alle Untersuchungen wegen Krankheiten, alle Beratungen, Abhorchen, Ausstellen von Rezepten, telefonische Beratung. Egal, wie oft jemand mit dem Kind kommt, kann ich also in drei Monaten nicht mehr abrechnen als 34,70 . Nur wenn ich an einem Einzeltermin länger berate als zehn Minuten, gibt es jeweils eine Gesprächsvergütung von 15,86 Euro. Das muss man sich mal hochrechnen.

Machen Sie mal.

Nehmen wir an, so ein Gespräch dauert 15 Minuten. Pro Stunde kann ich maximal vier dieser Gespräche führen, wenn ich voll durcharbeite, keine Pausen mache und keine Dokumentationszeiten einrechne. Das macht knapp 64 Euro Stundenlohn.

Für viele ist das ein ordentlicher Betrag.

Ich würde auch sagen: Für mich als Einzelperson wäre das noch angemessen. Aber ich habe noch die ganze Praxis dabei: Angestellte, Miete, Betriebskosten, sonstige Struktur. Das heißt, es ist für keinen Arzt wirtschaftlich, länger als zwingend notwendig, mit dem Patienten zu reden. Und für den Patienten ist das nur noch Fließbandmedizin.

Also kann man eine Kinderarztpraxis nur mit Kassenpatienten gar nicht lukrativ betreiben?

Doch, das können Sie schon. Wenn Sie jegliche Aufnahmebeschränkungen aufheben und jeden Patienten annehmen. Die Fallpauschale kassieren, ohne sich aber wirklich um den Einzelnen zu kümmern. Die Patienten dann schnell weiter überweisen, ohne wichtige Untersuchungen zu machen oder zu überprüfen: Kommt der da wirklich an, ist der da gut versorgt. Wichtig für eine solche Praxis ist auch, keine Kinder mit einer stärkeren Behinderung oder wirklich schlimmen chronischen Erkrankung anzunehmen. Dieses Modell würde wunderbar funktionieren. Aber das ist nicht, wofür ich in der Medizin angetreten bin.

Aber trotzdem stehen Familien in Bielefeld bei Ihnen damit vor der Wahl: Entweder selbst zahlen oder keinen Kinderarzt haben.

Für den einzelnen Patienten stimmt das, ja.

Also konkurrieren Kassenpatienten jetzt nicht mehr nur mit Privatversicherten, sondern zunehmend auch mit Selbstzahlern. Und das heißt, es gibt nicht mehr nur die bessere Versorgung für Menschen, die sich das leisten können, sondern davon hängt ab, dass man überhaupt versorgt ist. Und das finden Sie nicht verwerflich?

Ich finde es ehrlich. Politik und Krankenkassen gaukeln den Menschen vor, dass wir ein hochfunktionales Gesundheitssystem haben, in dem alles bezahlt wird. Doch das ist längst nicht mehr der Fall. Indem ich so arbeite, wie ich arbeite, lege ich den Zustand bloß offen. Die Flatrate &bdquo;Alles-sofort-umsonst“ zum Kassentarif funktioniert in unserem Gesundheitssystem schon lange nicht mehr. Viele Patienten kriegen das in den Praxen aber nicht mit.

Wie meinen Sie das?

Jede Leistung wird vollständig bezahlt. Wenn es die Kasse nicht tut, und der Patient auch nicht, dann bleibt nur der Arzt, indem er die Zeit des Personals oder seine eigene umsonst zur Verfügung stellt, und damit das System selber finanziert. Das kann man nur bis zu einem gewissen Grad leisten. Und deshalb wird in vielen Fällen Patienten etwas vorenthalten, was sie im Zweifel nicht mal merken. Anstatt ehrlich und transparent vorzurechnen, was der Patient dazu bezahlen müsste für eine Versorgung, die dem entspricht, was er wirklich braucht und haben will. Dann kann er frei entscheiden.

Aber finden Sie das nicht unethisch?

Ich sage Ihnen mal, was ich unethisch finde: Wenn Eltern mitgeteilt bekommen, dass ihr Kind höchstwahrscheinlich mit einer schwerwiegenden Behinderung zur Welt kommen wird, dann geht es darum, zu entscheiden, ob diese Schwangerschaft eventuell abgebrochen wird. Und dann berät auch der Kinderarzt, weil nur er verdeutlichen kann, was mit dieser Behinderung auf das Kind zukommt, welche Schmerzen es haben wird, welche Behandlung es benötigen wird. Wissen Sie, was den Kassen dieses Beratungsgespräch über das Leben eines ungeborenen Kindes wert ist?

Wie viel?

8,06 Euro für fünf Minuten. Das kann ich maximal viermal abrechnen, das sind dann 32 Euro. Jeder Kostenvoranschlag für die Reparatur eines elektrischen Geräts wird höher vergütet. Das finde ich unsäglich. Aber die Kassen haben Angst, die Ärzte könnten hier zu viele Kosten verursachen. Unethisch wäre es, daraus über eine Privatleistung ein Geschäftsmodell zu machen. Also rechne ich im Zweifel 32 Euro ab und das Gespräch dauert so lange, wie es dauern muss. Aber eine Impfberatung für eine Fernreise von Menschen privat abzurechnen, die sich diese Fernreise leisten können, finde ich in Ordnung. Schulprobleme sind übrigens ein anderes gutes Beispiel.

Welche genau?

Es wäre total sinnvoll, viele Kinder systematisch auf ADS, Dyskalkulie oder Lese-Rechtschreibschwäche zu untersuchen, ehe man sie ein Schuljahr wiederholen lässt oder Hunderte Euro in Nachhilfeinstitute investiert. So eine Beratung bekommt man in der gesetzlichen Krankenversicherung aber nicht - und direkt anbieten kann ich es nur im Rahmen einer Privatsprechstunde.

Und schon schnappen wieder viele empört nach Luft.

Und das sind mit Sicherheit Menschen, die ohne Bedenken viel mehr Geld im Monat für einen Besuch beim Friseur ausgeben. Oder 100 Euro für einen Abend im Restaurant. Oder 60 Euro für eine Haustierversicherung. Eine Zusatzversicherung für ein Kind, die auch ambulante Behandlungen beim Kinderarzt oder anderen Ärzten einschließt, erhalten sie ab 35 Euro. Das ist für viele überhaupt nicht bezahlbar, das ist mir völlig klar - für viele aber eben schon. Und da kommt noch ein wichtiger Fakt hinzu.

Welcher?

Wenn Sie jetzt bei der von den Kassen vielfach beworbenen Nummer 116 117 anrufen und nach einem Vorsorgetermin für ein Kind fragen, der auch von der Kasse bezahlt wird, dann kriegen Sie den - in etlichen Wochen in einer Stadt, die unter Umständen nicht mal in unserem Bundesland liegt. Und dann stellt sich doch die Frage: Bezahle ich das Geld für den Sprit oder als Selbstzahler bei einem Kinderarzt in meiner Stadt? Preislich macht das wenig Unterschied. Davon machen sich viele aber keine Vorstellung. Und auch das gehört zur Wahrheit: Die privatärztliche Gebührenordnung stammt von 1982 und ist seitdem nicht erhöht worden.

Und trotzdem gibt es Menschen, die sich das nicht leisten können und dann gar keine Vorsorge für ihr Kind kriegen. Und auch keine Impfungen.

Es gibt noch eine Möglichkeit, die vielen nicht bekannt ist. Im Sozialgesetzbuch steht klar, dass jeder, der belegen kann, dass er keine medizinische Versorgung findet, die privat in Anspruch nehmen und die Kosten von der Krankenkasse zurückfordern kann. Dafür haben die Kassen sogar extra vorgedruckte Formulare. Aber das mögen die nicht so gern. Um den Weg zu gehen, muss man kampfeswillig sein.

Kampfeswillig, solvent, informiert und mit allen Wassern gewaschen.

Das Ding ist doch: In anderen Fachrichtungen, bei Zahnärzten zum Beispiel, erwartet niemand mehr, ohne Zusatzversicherungen eine vernünftige Behandlung bekommen. Bei Kinderärzten denken alle: Die können sich doch nicht bereichern. Aber ich kann doch nicht dafür zuständig sein, den Kindern die bestmögliche Behandlung zukommen zu lassen und die Eltern von jeglicher finanzieller Verantwortung zu entbinden. Das ist mein Beruf, kein Hobby. Dafür habe ich lange studiert, trage eine hohe Verantwortung und gehe haftungsmäßig ein hohes Risiko ein. Außerdem muss und möchte ich mein Personal vernünftig bezahlen.

Warum ein Bielefelder Kinderarzt die Sprechzeit für Kassenpatienten kürzt

Angebot zur Kommunalwahl

Per Cash zum schnellen Arzttermin? Wie lippische Praxen mit Selbstzahlern umgehen

Das müssen Eltern über die Suche nach einem Kinderarzt wissen

Streit um das Warten auf Arzttermine in Deutschland

Einmal Privatpatient sein: Was gesetzlich Versicherte beachten sollten

Familie aus OWL seit einem Jahr ohne Kinderarzt - das Jugendamt macht Druck

Streit um Strafgebühr für versäumte Arzttermine