Der Preis der Nachtschicht: Unterwegs mit einem Bielefelder Taxifahrer

Bielefeld. Das Blaulicht färbt die Fassade des Bielefelder Hauptbahnhofs im ruhigen Takt ein und wieder aus. Der Rettungswagen steht still vor der “Tüte”, keine Sirene in der lauen Sommernacht. Das Blaulicht erlischt, der Rettungswagen zieht am entvölkerten Bahnhofsplatz vorbei Richtung Jöllenbecker Straße. Nur noch ein gutes Dutzend Taxen stehen an diesem Dienstag um 23 Uhr zu beiden Richtungen bereit.

Eine Stunde zuvor: “Hier ist der stille Alarm”, erklärt Seckin Is und zeigt auf den Bereich unterhalb seines Lenkrades. Wenn der 37-jährige Bielefelder mit kurdischen Wurzeln und dem präzise konturierten Vollbart ihn auslöst, wird nicht nur die Taxi-Zentrale automatisch informiert. Auch drei rote Leuchtpunkte auf dem Dachschild, das Taxifahrer &bdquo;Vogel“ nennen, beginnen zu blinken. Für Passanten ein Zeichen: Sofort die Polizei informieren! Der Fahrer befindet sich in Gefahr.

Secko, so sein Spitz- und Firmenname, hat den stillen Alarm schon ein paar Mal genutzt. Bei Gästen, die ihn angeschrien, bedroht oder um den Preis gestritten haben. Mit mäßigem Erfolg. “Der laute Alarm bringt was“, weiß er, der erregt mehr Aufmerksamkeit und verschreckt auch den Angreifer im Taxi. Er ist Vorschrift, und gesetzlich geregelt ist auch, dass das Taxi dann in Intervalle hupt und die Scheinwerfer blinken müssen.

Die Konkurrenz setzt der Branche zu Seit 17 Jahren fährt Secko nun, wie sein Vater, sein Bruder, sein Onkel und sein Schwager. Sechs Tage die Woche. Von 18 bis sechs Uhr. Sonst rentiere sich das nicht, erklärt er. Sein Business läuft gut, &bdquo;Ich stehe bei Google ganz oben mit 377 Bewertungen“ erklärt er stolz. Das Gewerbe insgesamt steht aber unter Druck, verstärkt seit der Corona-Pandemie: Die Konkurrenz in den Millionenstädten – vor allem preisdrückende Plattform-Dienste wie Uber – setzt der Branche zu.

Abend für Abend tastet sich Secko mit dem Taxi Richtung Innenstadt. Er kommt aus Brake, wo er mit seiner Frau und seinen Kindern lebt. &bdquo;Halbe Stunde versuch’ ich mein Glück“, jeder Kilometer ohne Fahrgast ist ein Kostenfaktor. In Bielefeld entgehen ihm zehn Cent pro 38,46 Meter, wie der geeichte Taxameter anzeigt, so kommt die Summe von 2,60 Euro für jeden gefahrenen Kilometer in der Nacht zustande – auch das ist gesetzlich geregelt.

Nachtschicht, um etwas von den Kindern zu haben Sich die Nächte um die Ohren zu schlagen, die betrunkenen, mal aufdringlichen oder – für ihn viel schlimmer – &bdquo;abgehobenen“ Gäste auszuhalten, das mache er für seine Familie. Einen ganzen Monat im Jahr fahren sie in den Urlaub, zwei Wochen in die Heimat nach Mardin, zwei Wochen nach Kuba, nach Griechenland, Italien oder Thailand. Er fahre die Nachtschichten, damit er etwas von seinen Kindern habe. Nachmittags sehe er sie, Samstag könne er seinen Sohn zum Fußball begleiten. Vier bis fünf Stunden Schlaf pro Tag, mehr schaffe er ohnehin nicht, egal ob mit Jalousien oder ohne.

Mit 21 habe er neben seiner Ausbildung zum Anlagenmechaniker das Taxifahren an den Wochenenden begonnen. 300 Euro an einem Wochenende, das entsprach in etwa seinem Monatslohn als Azubi. Da habe er die Ausbildung abgebrochen und sich vollends aufs Fahren verlegt. Erst angestellt, dann selbstständig, mit einem Fahrer, der nur die Tagesschichten fährt. Der Unterschied? &bdquo;Nachts ist der Verkehr ruhig, Gäste turbulent, tagsüber umgekehrt.“ Die Statistik gibt ihm recht: In der Nacht geschehen 80 Prozent der Gewalttaten, sexuelle Nötigungen und Raubüberfälle, schreibt die Berufsgenossenschaft Verkehr in ihrem &bdquo;Fahrerhandbuch Taxi“.

Für den Körper ein Graus Secko spricht lakonisch, kein Wort zu viel. Vergangenes Jahr wurde er von einem Gast mit einem Faustschlag durchs Fenster niedergestreckt, beim Zahlen, einfach so. Der sei vorher unauffällig gewesen. Seitdem lässt er sich das Geld nicht mehr durchs Fenster reichen, entweder direkt im Taxi oder er steigt als Erster aus. Sein Schwager wurde 2023 mit einer Kettensäge bedroht. Beide Täter habe man gepackt, aber passiert sei ihnen nichts. Die polizeiliche Kriminalstatistik listet in NRW für 2023 15 Fälle von Raubüberfällen auf Taxifahrer; Schläge, Nötigung, Belästigung, sexuelle Übergriffe sind nicht mit eingerechnet.

Während er erzählt, ruft sein Onkel Ertan an, ins Kurdische mogelt sich dann immer wieder ein deutscher Begriff, etwa &bdquo;Fitnessstudio“. Sein Onkel habe trainiert, Ertan leide unter Rückenproblemen, genau wie er selbst. Das viele Sitzen hat seinen Preis.

Noch schlimmer sei die Sache mit dem Essen: &bdquo;Zu 90 Prozent Fast Food“. Geöffnet haben spätabends nur McDonald’s und ein paar Dönerbuden, man müsse aber solche wählen, wo es schnell gehe, nicht, dass man einen Fahrgast verpasse. Secko ist ein stabiler Mann, nicht dick, aber auch kein Hungerhaken. Meistens werde es McDonald’s – direkt am Bahnhof, schnell und gut im Taxi essbar. Seit einiger Zeit ist sein Bauch entzündet. Auch das ein Preis der Nachtschicht. Er versuche nun, in der Schicht nichts zu essen, sondern zu Hause. Klappt nicht immer, zum Beispiel wenn Fahrgäste ihn einladen. Dann gewinnt eben die Nacht.

In die Büsche gezwungen Am miesesten sei aber die Toilettensituation für Taxifahrer: Das Bahnhofsklo ist nachts verschlossen, das Fast-Food-Restaurant hat nicht einmal ein WC. Für Mobiel-Fahrer und -Fahrerinnen gibt es selbstverständlich Toilettenhäuschen, zumindest an den Verkehrsknoten. Zu denen hat kein Taxifahrer einen Schlüssel. Zugang zu Sanitäranlagen, ein Menschenrecht? &bdquo;Gilt wohl nicht für Bielefelder Taxifahrer“, sagt Secko resigniert.

In die Zentrale fahren, gar nach Hause? Undenkbar, Umsatz geht verloren, Kosten entstehen. Aushalten? &bdquo;Viele haben Probleme mit der Prostata“, beklagt Secko. Tagsüber könne man manche Fahrt nutzen, zum Krankenhaus etwa, ein guter Ort zum Austreten – groß, anonym, offen. Wer aber nachts ins Krankenhaus muss, fährt nicht mit dem Taxi. Oft bleibe am Ende nur der Austritt ins Gebüsch, wohl fühle sich dabei niemand. Manchmal gäben sich die Taxifahrer untereinander Tipps, wo es am wenigsten auffallen, stören würde.

Die Nacht gewinnt Links und rechts neben dem Lenkrad hat Secko zwei Smartphones angebracht, auf dem rechten ist die Fahrer-App. Darauf sieht Secko die Taxi-Standorte in der Umgebung und wie viele Fahrer jeweils dort sind – wer zuerst kommt, mahlt zuerst: Boulevard, Siegfriedplatz, Eckendorfer Straße, viel los ist nirgendwo. Nur am Hauptbahnhof knubbeln sich alle, trinken Kaffee, schnacken und warten auf gestrandete Bahn-Kunden, die wieder den Anschluss verpasst haben. Oder auf den Anruf aus dem Restaurant, der ihnen die Heimfahrt der Abendgesellschaft beschert.

Um halb zwei steht Secko doch wieder im McDonald’s am Hauptbahnhof, natürlich zum Mitnehmen. Zwei McChicken, ein Eistee Pfirsich, die Nacht hat gewonnen.

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