Kreis Lippe. Ein kleiner Esel sitzt auf Annis Schoß. Ein wenig erinnert das Plüschtier an einen Schutzengel, der auf sie aufpasst. Mit ihm spielen kann die Vierjährige nicht. Annis Augen sind geschlossen, obwohl sie wach ist. Sie wedelt mit den Armen, dreht den Körper leicht hin und her. In den kleinen Nasenlöchern stecken Schläuche, die Anni mit Sauerstoff versorgen. „Im Winter bekommt sie schlecht Luft", sagt Mutter Melanie Meise.
Ihre jüngste Tochter leidet an einem seltenen Gendefekt, der sich PCH 2 nennt. Anni kann weder sehen noch selbstständig essen oder den Kopf halten. „Als sie geboren wurde, galt sie als gesund", sagt Melanie Meise. Dann kamen die ersten Krampfanfälle. Erst mit drei Monaten stellten die Ärzte einen schweren Hirnschaden fest, der eigentliche Gendefekt wurde erst kurz vor ihrem zweiten Geburtstag diagnostiziert. „Mein Mann und ich haben beide einen kleinen Fehler in unserem Erbgut, den haben wir weitergegeben", sagt die 37-Jährige.

Die Zeit danach sei wie ein Trauerprozess gewesen, als ob ein lieber Mensch bereits gestorben wäre. „Man verabschiedet sich von dem perfekten Kind", sagt Melanie Meise und lächelt ein wenig. Die Phase habe sie schnell überwunden, sagt sie. Die Familie sei sogar noch enger zusammengerückt, auch wenn die intensive Pflege der kleinen Anni eine große Herausforderung gewesen sei. „Man wächst in die Aufgabe langsam hinein. Anfangs kann sich das ja keiner vorstellen."
Mit Ehemann Björn, ihrer großen Tochter Maja und der kleinen Anni ist die Familie komplett. Annis ältere Schwester ist zehn Jahre alt und kerngesund. Die Beziehung der Geschwister zueinander beschreibt die Mutter als liebevoll. „Maja geht sehr behutsam mit Anni um und kuschelt viel", sagt Melanie Meise. Miteinander spielen und auch zwischendurch mal streiten, wie es bei Geschwistern sonst üblich ist, können die beiden nicht. Auch gemeinsame Ausflüge sind, bis auf kurze Spaziergänge, meist nur mit einem Teil der Familie möglich. „Es ist schon komisch, wenn man danach Bilder anguckt und immer ein Kind fehlt", sagt die Mutter. Denn Anni ist durch das Sauerstoffgerät und die vielen medizinischen Hilfsmittel nur wenig mobil.
Die Lebenserwartung ist kurz
Wie lange die Kleine mit der Krankheit überleben kann, wissen die Eltern nicht. Die mittlere Lebenserwartung liegt nach Forschungsergebnissen bei wenigen Jahren. Auf eine Million Menschen kommt ein Kind in Deutschland, das an der Pontocerebellären Hypoplasie Typ 2 (PCH 2) erkrankt. „Seit der Diagnose ist die Sorge jedes Mal groß, wenn wir wieder ins Krankenhaus müssen", sagt Melanie Meise. „Man stellt sich automatisch die Frage: Kommen wir wieder alle zusammen nach Hause?" Der Gendefekt äußere sich durch verschiedene „körperliche Baustellen", erklärt die zweifache Mutter. Bei Anni sind es die Lungen. Weil das Mädchen schwerstbeeinträchtigt ist, stehen der Familie jährlich 28 Tage im Kinderhospiz zu, um Anni zu behandeln und etwas entlastet zu werden. Gerade momentan sei die Situation durch Kurzarbeit und Homeschooling angespannter und noch belastender. Seit Dezember wird die Familie vom Ambulanten Hospiz- und Palliativdienst Lippe unterstützt. „Die Begleiterin soll vor allem für Maja da sein", sagt Melanie Meise.
Mit Anni direkt sei der Kontakt schwierig, auch wenn sie auf Körperkontakt und Ansprache reagiere. „Kitzeln gefällt ihr", verrät Melanie Meise. Unterbewusst schwinge aber ein wenig die Sorge mit, die älteste Tochter könne sich doch manchmal zurückgesetzt fühlen und Probleme in sich hinein fressen. Daher seien Lehrkräfte und das enge Umfeld sensibilisiert worden. Auch die Begleitperson könnte einen neutralen Ankerpunkt bieten. „Wir erleben oft, dass Geschwisterkinder sich zurückziehen, weil das kranke Kind viel Aufmerksamkeit braucht", sagt Gabriele Monath, Koordinatorin für Ambulante Kinder- und Jugendhospizarbeit in Lippe. Anders als in der Erwachsenenarbeit sei das palliative Begleiten von schwerkranken Kindern und ihren Familien oft langfristiger und allen voran Beziehungsarbeit. „Wir sind neutral und richten uns ganz nach den Bedürfnissen der Familien", sagt Monath. Oft sei es vor allem wichtig, sich Zeit zu nehmen, für das Kind oder andere Familienmitglieder da zu sein und uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu schenken.
Während Maja gerade dabei ist, ein Iglu mit Papa Björn im Garten zu bauen, gibt Melanie Meise offen zu, dass es auch schwierige Momente gibt. „Als ich das letzte Mal mit Anni ins Krankenhaus musste, habe ich gemerkt, dass Maja das schwergefallen ist." Den Grund dafür habe sie erst später verstanden. „Es waren nur zwei Tage geplant, aber es kam auch schon vor, dass wir doch zwei Wochen im Krankenhaus bleiben mussten." Die Trennung vom Rest der Familie wäre dann außergewöhnlich lang gewesen. Wegen der Pandemie hätte Maja Mutter und Schwester nicht einmal im Krankenhaus besuchen können. „Natürlich ist das schwer."
Momentan ist Annis Zustand stabil, dennoch kann sich das jederzeit ändern. „Manchmal gibt es kritische Situationen, in denen man schnell handeln muss", sagt Melanie Meise. Ein Grund, weshalb Großeltern oder Freunde nicht einfach über einen längeren Zeitraum auf Anni aufpassen können. „Allein die vielen Geräte zu bedienen, ist kompliziert." Obwohl der Alltag die 37-Jährige und die ganze Familie oft an ihre Grenzen bringt, möchte die zweifache Mutter das Leben, wie es ist, nicht missen. „Mit einer gesunden Anni hätten wir viele Menschen und Schicksale gar nicht kennengelernt." Viel Kraft habe auch eine Selbsthilfegruppe für Familien mit PCH 2-Kindern im Internet gegeben. Und auch die engen Freundschaften, die vor Annis Geburt bestanden hätten, seien nicht zerbrochen. „Es liegt vielleicht auch etwas an einem selbst – ob man sich abkapselt oder nicht." Für Familie Meise aus Oerlinghausen zählt der Weg nach vorne. „Wir machen unser Leben schön", sagt Melanie Meise. Dabei strahlt sie.
Sterbende Kinder sind ein Tabu
Wenn Gabriele Monath, Koordinatorin für Ambulante Kinder- und Jugendhospizarbeit in Lippe, und ihr Team mit einem Infostand in der Fußgängerzone stehen, würden die meisten Menschen einen großen Bogen um sie machen. „Viele bekommen bei dem Thema Angst. Wenn ein Kind lebensbegrenzend erkrankt ist, geht das Umfeld oft auf Distanz", sagt Monath. Neun Familien werden vom Palliativdienst derzeit in Lippe begleitet. Wichtig sei, aufeinander zuzugehen.