Lage. Wer Renate Müller dabei beobachtet, wie flink und bestimmt sie sich mit ihrem Elektro-Rollstuhl „Optimus 2“ durch den Lagenser Stadtverkehr bewegt, kurz links schaut, rechts, und dann ohne Zögern auch viel befahrene Straßen überquert, merkt schnell: Da hat jemand keine Angst. Oder besser gesagt: musste sich seine Angst mühsam abtrainieren. Denn Schrecksekunden gibt es für Müller als Mensch im Rollstuhl zuhauf. Bürgersteige mit steilen Neigungswinkeln. E-Roller-Fahrer, die in einem Affenzahn auf dem schmalen Gehweg unterwegs sind, junge, alte, manche mit Handy vor der Nase. Mülltonnen - „vor allem die gelben!“ - oder Lieferfahrzeuge, die den Weg derart versperren, dass die 70-Jährige auf die Straße ausweichen muss. „Ich bin in Aachen aufgewachsen, einer Großstadt also, und habe dort auch meinen Führerschein gemacht“, erzählt sie, während sie sich auf dem für sie altbekannten Zick-Zack-Kurs an der Langen Straße Richtung Innenstadt vorarbeitet. Planung und Puffer Dass sie Verkehrstrubel gewohnt ist, helfe ihr jetzt. Trotzdem, räumt sie ein, bedeute jeder Weg für sie Stress. Stets plane sie einen Zeitpuffer ein, um pünktlich da sein zu können. Sie muss immer mal wieder Tonnen beiseiteschieben, warten, wieder warten, Glasscherben umfahren, die ihren Luftreifen zusetzen können. „Und das“, sagt sie, „geht anderen Betroffenen ja nicht anders.“ Nach einer missglückten Operation im Jahr 2016 lag Müller acht Monate im Krankenhaus, machte dann eine Reha. Ein Arzt prophezeite ihr, sie werde ihr Leben lang im Rollstuhl sitzen. „Und dann musste ich erst mal gucken, wie ich damit zurechtkomme.“ Fortan regelmäßig andere Menschen um Hilfe bitten zu müssen: „Das fiel mir anfangs sehr schwer. Ich bin immer selbstständig gewesen.“ Positiv betrachtet allerdings erlebe sie viel Mitgefühl seitens anderer Menschen, etwa beim Einkaufen. „Und ich werde öfter angelächelt, wenn ich mit dem Rollstuhl unterwegs bin.“ Ein kleiner Trost: Denn Hürden und Hindernisse - sie sind seitdem ein Bestandteil ihres Alltags. Sie ist gern unterwegs, hat mehrere Ehrenämter, ist in ihrer Freikirche aktiv. Für ihren ersten E-Rolli, der ihr die Teilhabe überhaupt ermöglicht, stritt sie nach langem Hin und Her vor dem Sozialgericht. „Ohne könnte ich nirgendwo mehr hin“, so Müller. „Dann wäre ich ans Haus gefesselt.“ „Nur mal schnell“ Während Müller den gelben Paketwagen passiert, der extra für sie ein Stück zurückgesetzt hat, erzählt sie, dass sie durchaus Verständnis hat für all die Leute, die „nur mal schnell“ zum Ausladen auf dem Gehweg parkten oder lieber nicht als Radfahrer die ohnehin enge Straße benutzten, die sich im Berufsverkehr in ein Nadelöhr aus Blech und Abgasen verwandelt. „Am schlimmsten ist es inzwischen für die Fußgänger und die Rollstuhl-Fahrenden oder Menschen mit Rollator“, findet Müller. „Wir sind am meisten unter Druck durch Radfahrer, E-Scooter und den Autoverkehr.“ Es ist nicht lange her, da wurde sie an der Kreuzung mit der B 239 beinahe von einem abbiegenden Auto erfasst - sie hatte Grün, die umliegenden Passanten kreischten vor Schreck. „Das war um Haaresbreite“, so Müller. Ein Schild verhindere an der Stelle die freie Sicht. Es kommt vor, dass sie zehn Minuten wartet, bis jemand ein Auto weggefahren und somit den Weg für sie freigemacht hat. Spricht sie die Menschen dann an, fielen die Reaktionen sehr unterschiedlich aus. „Natürlich gibt es Ignorante, doch vielen ist es dann sofort sehr unangenehm und sie erklären mir, warum sie dort standen - zum Ausladen, weil sie kleine Kinder haben oder jemanden, der selbst nicht gut laufen kann, zum Arzt bringen müssen“, nennt Müller Beispiele. Aufzüge oft defekt Sie will die Menschen gar nicht belehren, sie möchte, wenn überhaupt, zu Rücksichtnahme animieren. „Ich habe mir, bevor ich auf den Rollstuhl angewiesen war, über so etwas auch keine Gedanken gemacht“, gibt sie zu. Sie würde sich wünschen, dass bei jeder Planung - sei es eines Gehwegs, einer Kreuzung oder eines Hotels - stets Menschen mit Gehbehinderung mit einbezogen würden. Teilhabe sei für sie und andere Betroffene unmöglich, wenn sie ein Kleidungsgeschäft, ein Restaurant oder sogar die öffentlichen Verkehrsmittel gar nicht betreten könnten. „Mit dem Bus fahre ich fast gar nicht mehr, es ist zu unsicher, ob ich hineinkomme“, so die 70-Jährige. Beim Bahnfahren dasselbe Problem: Nicht zu wissen, ob die Aufzüge funktionierten, ob es einen kurzfristigen Bahnsteigwechsel gebe - Adrenalin pur. „Das mute ich mir nicht mehr zu.“ Die passionierte Schwimmerin konnte auch im Lagenser Hallenbad schon für eine längere Zeit keine Bahnen mehr ziehen, da der Aufzug defekt war und das Ersatzteil monatelang nicht verfügbar. Ja, manchmal machten sie diese Umstände auch „wirklich wütend“, räumt Müller ein, die in einer solchen Stimmungslage auch eine E-Mail an die LZ schrieb, um das Problem in den Fokus zu rücken. Was sie sich wünscht? Neben der barrierefreien Planung neuer Bauprojekte vor allem schärfere Kontrollen aller Verkehrsteilnehmer, gerade der E-Scooter, die sie seit etwa einem Jahr als echte Gefahr wahrnimmt. Straßen wie die Lange Straße könne man nun einmal nicht verbreitern, doch der Raum müsse rücksichtsvoller geteilt werden. Leider nehme Sie äußerst selten solche Kontrollen wahr. Auch das Parken an Einmündungen und Kreuzungen, sodass sie die abgesenkten Bordsteine nicht nutzen kann, sei ein Kernproblem. „Ich erlebe jeden Tag Einschränkungen - wie muss das erst für Menschen sein, die im Arbeitsleben stehen und auch nicht, wie ich, noch einige wenige Schritte laufen können?“ Humor hilft Sie selbst tut, was sie kann, um anderen in ähnlichen Situationen zur Seite zu stehen, bewarb sich für den Posten der städtischen Behindertenbeauftragten und berät für den Sozialverband VdK. Ansonsten helfe ihr: der Humor. Ihr bislang einziger Unfall ereignete sich ohne Fremdeinwirkung, erzählt sie: „Ich habe eine Kurve zu scharf genommen und landete in einer Hecke.“ Sie lacht. Inzwischen komme sie mit dem Joystick zum Steuern deutlich besser zurecht. Das ist unübersehbar. Und kein Wunder - bei ihren tagtäglichen Slalomfahrten.