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Oerlinghausen

Als der Tabak das Leben in Oerlinghausen bestimmte

Oerlinghausen. Es herrschte große Not in Oerlinghausen Mitte des 19. Jahrhunderts. Die zuvor blühende Leinenindustrie, die vielen Hauswebern ein auskömmliches Leben sicherte, war zusammengebrochen. Denn die mechanischen Webstühle und die Spinnmaschinen, die in England erfunden worden waren, überschwemmten ganz Europa mit billigem Leinen. Ein Hausweber nach dem anderen wurde brotlos. Viele Menschen starben an Hungertyphus und der „Brustkrankheit“ (Auszehrung). Zwar nahm die aufkommende Ziegelindustrie manchen jungen Handweber auf, doch das geschah nur langsam. Aus blanker Verzweiflung wanderten immer mehr Menschen aus. In Oerlinghausen gab es um 1850 kaum eine Familie, von der nicht eine oder mehrere Personen nach Nord- oder Südamerika ausgewandert waren. Dringend brauchten aber die hiergebliebenen Menschen neue Erwerbsquellen.

„Die Arbeitsweise im Sitzen war bequem“

„Um 1840 wurde es modern“, schreibt August Reuter, Oerlinghausens ehemaliger Bürgermeister, in der Dorfchronik, „statt der Pfeife eine Zigarre zu rauchen.“ Bremer Fabrikanten waren die ersten, die auch in Ostwestfalen nach Fertigungsstätten für Zigarren zur Verarbeitung des importierten Tabaks suchten. In Städten wie Bünde, Enger, Vlotho und Minden wurden sie fündig. Und bald begannen immer mehr kleine Hausmanufakturen mit einigen Arbeitern in engen Stuben aus Tabakblättern wertvolle Zigarren zu rollen.

Auch Oerlinghausen avancierte zu einer Hochburg der Zigarrenindustrie. „Der Lohn war zwar gering“, schreibt August Reuter, „aber die Arbeitsweise im Sitzen war bequem und glich der früheren Arbeit des Webens.“ Als Erster stieg der Leinenhändler Hölter in die neue Branche ein. In seinem Haus an der Hauptstraße 3 (heute Altdeutsche Bierstuben) eröffnete er die erste „Zigarrenbude“ des Dorfes. Mit drei Zigarrenwicklern, die zugleich die fertigen Rauchwaren packten und versandfertig aufbereiteten, begann die kleine Manufaktur. Doch Hölter beherrschte das Geschäft des Zigarrenmachens offenbar nicht, denn schon nach wenigen Jahren, 1862, musst er Konkurs anmelden. Sein Haus wurde versteigert und ging an einen neuen Besitzer – an den Schankwirt Adolf Reuter, einen Großvater des späteren Bürgermeisters.

Mehr Erfolg hatte da schon der Kaufmann Buckup, der in den 1860er Jahren mit einer Zigarrenfabrik am Gehrenberg 1 startete. Kurz darauf folgten die Brüder Paradies in ihrem Haus Hauptstraße 53 gegenüber der Alexanderkirche. Die beiden Firmen verstanden etwas vom Tabakgeschäft und zogen gute Zigarrenmacher und Sortierer von außerhalb an, die wiederum immer mehr Oerlinghauser Arbeiter anlernten. Die gewandten Zigarrenwickler erhöhten ihren Verdienst noch einmal dadurch, dass sie die groben Arbeiten, wie das „Abstruppen“ von ihren Kinder zu Hause erledigen ließen. Nach der Schule saßen so oft die Geschwister in der engen Stube und rissen den Tabak von den Stengeln – eine staubige, ungesunde Arbeit.

Eine glückliche Hand bei der Mischung der Tabake

Ein Zigarrenmacher in Heimarbeit. Die Zigarren wurden nach Größe sortiert und in Pressbretter links eingelegt. - © Repro: Horst Biere / Quelle: Stadtarchiv
Ein Zigarrenmacher in Heimarbeit. Die Zigarren wurden nach Größe sortiert und in Pressbretter links eingelegt. (© Repro: Horst Biere / Quelle: Stadtarchiv)

Doch das Zigarrengeschäft boomte. Zu einem der größten Fabrikanten weit und breit entwickelte sich Arnold Elmendorf, der aus Brockhagen bei Halle stammte. Er heiratete die Tochter des Brauereibesitzers August Becker, kaufte sich von der Mitgift das Haus Detmolder Straße 13 und baute die frühere Tischlerei zu einer Tabakfabrik um. Um die 40 Arbeiter beschäftigte er später gegen Ende des Jahrhunderts. „Seine Zigarren genossen einen vorzüglichen Ruf, besonders im Ruhrgebiet“, berichtet August Reuter. Weitere Unternehmen kamen hinzu. Bald lagen allein an der Detmolder Straße vier Zigarrenfabriken: Die Firmen Elmendorf, Adolf Altenbernd, C.A. Reuter und Carl Hölter. Zusammen gaben sie um 1900 etwa 100 Menschen einen Arbeitsplatz. Erfolg hatte auch F. A. Büker, der seinerzeit das Haus Bahnhofstraße 11 (heute Rathausstraße) erwarb. Büker hatte das Zigarrengeschäft als Reisender von der Pike auf gelernt und eine glückliche Hand bei der Mischung der Tabake. Vor allem seine Marke „Kornblum“ (zwei Stück zu 15 Pfennige) fand hervorragenden Absatz.

Die Zigarrenbeschäftigten formierten sich immer mehr zu einer eigenen Arbeiterklasse. „War ihr Lohn auch gering und die Arbeitszeit von 7 bis 19 Uhr – bei einer Stunde Mittagspause – auch sehr lang“, beschreibt August Reuter, „so waren sie doch politisch und gesellschaftlich sehr aktiv.“ Sie engagierten sich in der Schützengesellschaft und in Sportvereinen und sie galten als begeisterte Sänger in einem eigenen Gesangverein. Reuter: „War auch wenig Geld vorhanden, so wurden montags in den Zigarrenbuden die Groschen zusammengelegt, und die Lehrlinge mussten einige marinierte Heringe holen. An warmen Sommertagen war auch Geld für einige Liter Bier vorhanden.“

Die populäre Zigarette löste die Zigarre ab

Und sie solidarisierten sich auch politisch in der damals jungen und aufstrebenden sozialdemokratischen Partei. Im Jahre 1890 zählte man in Oerlinghausen schon 160 Mitglieder. Um 1900 saß mit Karl Becker ein Oerlinghauser Zigarrenmacher im lippischen Landtag.

Doch die immer populärer gewordene Zigarette ersetzte im Laufe der Jahrzehnte die Zigarre mehr und mehr. Nach dem Zweiten Weltkrieg war praktisch Schluss mit der Zigarrenherstellung. Die letzte Zigarrenfirma stellte 1965 den Betrieb ein: Carl Plaßmeyer, bekannt als langjähriger Schützenoberst, hielt am längsten durch. Zuletzt allerdings als Zigarrenhändler, denn seine eigene Produktion hatte er bereits 1952 aufgegeben.

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