Kritik an neuen Quarantäneregeln: Geboosterte nicht lange genug geschützt

Bielefeld/Berlin. Lange war es diskutiert worden, nun ist klar: In Deutschland wird die Quarantäne verkürzt oder fällt für bestimmte Gruppen ganz weg. Dieser Bund-Länder-Beschluss sorgt allerdings nicht nur für Zustimmung. Von Medizinern und Epidemiologen kommt auch Kritik. So sind künftig Kontaktpersonen von der Quarantäne ausgenommen, wenn sie eine Auffrischungsimpfung haben, frisch doppelt geimpft sind, geimpft und genesen sind oder frisch genesen. Für alle Übrigen sollen Isolation oder Quarantäne in der Regel nach zehn Tagen enden, wenn sie sich nicht vorher freitesten lassen.

&bdquo;Ich halte das nicht für komplett unverantwortbar, aber hätte eine kurze Quarantäne mit einem Test nach wenigen Tagen auch für Geboosterte bevorzugt, um das Infektionsgeschehen noch mehr zu unterbrechen", sagt der Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen. &bdquo;Boostern bietet einen gewissen Schutz vor Infektionen, aber sicher keinen kompletten."

Epidemiologe: "Nach 60 Tagen flacht der Schutz ab"

Oliver Razum, Epidemiologe aus Bielefeld, sieht noch ein anderes Problem: &bdquo;Es gibt bei dieser neuen Regelung in meinen Augen keine gute Kommunikation darüber, wie zeitlich begrenzt der Schutz ist, der den Menschen diese Quarantänefreiheit ermöglicht", kritisiert er. &bdquo;Nach 60 Tagen flacht der Schutz nach und nach ab, wie schnell, wissen wir noch nicht. Das ist auch individuell unterschiedlich." Damit steige das Risiko einer Übertragung. &bdquo;Und da ist vor dem Hintergrund, dass dies immer die Möglichkeit weiterer Mutationen schafft, jede Übertragung eine zu viel."

Dennoch hält auch Razum die Sorge um eine gesicherte Infrastruktur für berechtigt. &bdquo;Hier müssen die Risiken gerade sehr gut gegeneinander abgewogen werden, und das ist in dieser Pandemie immer auch ein Flug auf Sicht." Zeeb formuliert es noch mal anders: &bdquo;Geboosterte Kontaktpersonen haben individuell das kleinste Risiko für schwere Verläufe und Infektionen. Wenn man sie jetzt aus der Quarantäneregelung herausnimmt, steht offensichtlich nicht dieses Risiko, sondern die dann mögliche weitere berufliche und sonstige Aktivität der Personen im Vordergrund, mit anderen Worten: Sie fallen nicht aus."

Chefarzt: "Was auf uns zukommt, ist ein Tsunami"

Wie sinnvoll diese Überlegung ist, zeigt sich derzeit in Bielefeld. Im dortigen Evangelischen Klinikum Bethel ist innerhalb weniger Tage der Wechsel von Delta auf Omikron vollzogen. &bdquo;Mit dieser Schnelligkeit haben selbst wir nicht gerechnet", sagt der Chefarzt der Klinik für Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin, Bernd Schönhofer. &bdquo;Was auf uns zukommt, ist ein Tsunami. Um den personell bewältigen zu können, müssen wir einen Riesenspagat machen zwischen der Aufrechterhaltung der Versorgung und der Sicherheit für die Patienten."

Für die ersten 60 Tage nach dem Boostern sieht Schönhofer hier allerdings auch keine Probleme. &bdquo;Die neuesten Studien belegen, dass Geboosterte in diesem Zeitraum einen sehr hohen Schutz haben, selbst zu erkranken oder die Infektion weiterzugeben." Danach sieht auch er allerdings das Problem der Abflachung. &bdquo;Und da müssen wir ganz klar sagen, dass manche Fragen offen bleiben müssen, wie es dann weitergeht. Wir haben derzeit alle paar Wochen eine völlig neue Datenlage." Klar ist schon jetzt, dass man im EvKB deshalb weiter auch auf die klassischen Maßnahmen setzen wird. &bdquo;Mitarbeiter, die Kontaktpersonen sind, arbeiten auch geboostert mit Maske und Visier und halten den größtmöglichen Abstand, sobald es die Situation zulässt", so Schönhofer.

Situation in Pflegeheimen, Grundschulen und Kitas

Allerdings hat man in Kliniken auch das entsprechende Know-how und die Möglichkeiten. Anders sieht es in Pflegeheimen, Grundschulen und Kitas aus, Orten an denen sich vulnerable Gruppen oder Ungeimpfte aufhalten. &bdquo;Man kann den alten Menschen ein paar Tage lang in dieser Schutzkleidung begegnen", sagt Thorsten Klute, Vorstandsmitglied der AWO OWL. &bdquo;Aber auf Dauer geht das nicht, dadurch isoliert man sie, das ist ihr Wohnraum, dort leben sie." Der neuen Regelung steht Klute entsprechend gespalten gegenüber. &bdquo;Für die Personalsituation in der Pflege ist das die einfachste Regelung. Umfangreiche Quarantänezeiten für alle Mitarbeiter wären hier unter dem Einfluss von Omikron nicht leistbar. Aber natürlich gilt auch: Sicherheit der Bewohner geht vor."

Ähnlich formuliert es Stefan Behlau, Vorsitzender des Verbandes für Bildung und Erziehung NRW. &bdquo;Bei dem Fachkräftemangel, der auch in Schulen herrscht, brauchen wir jeden Lehrer, jede Lehrerin, die arbeiten kann, um den Unterricht zu gewährleisten. Die Sicherheit der Kinder und Beschäftigten darf aber auch nicht gefährdet werden. Ob die neue Regelung diesen Spagat bereitstellt, müssen Virologen und andere Experten beurteilen."

Kritik kam vor der Ministerpräsidentenkonferenz von der SPD-Fraktionsvorsitzenden Dagmar Schmidt. Sie warnte vor komplizierten Quarantäneregeln. &bdquo;Sie müssen einfach, klar und verständlich sein", sagte die Gesundheitsexpertin. Wenn die Bevölkerung die Handlungsanweisungen nicht mehr nachvollziehen könne, sinke auch die Akzeptanz für diese Regeln.

Der Freifahrtschein für Geboosterte ist eine gefährliche Illusion

Ein Kommentar von Anneke Quasdorf

Es ist die große Freiheit: Künftig müssen Geboosterte sich nicht mehr in Quarantäne begeben. Ein großer Schritt, um zu verhindern, dass die kritische Infrastruktur nicht nur durch die Omikron-Infektionszahlen, sondern auch durch zu strenge Arbeitsverbote für wichtige Berufsgruppen gefährdet wird.

Dieser Schritt ist einleuchtend und wahrscheinlich nicht vermeidbar – aber er führt trotzdem in die falsche Richtung. Wir haben in der Pandemie immer wieder gesehen, wie wichtig Signalwirkungen für die Bevölkerung sind. Und dieses Signal jetzt ist gefährlich: Geboosterte kriegen, ähnlich wie vormals zweifach Geimpfte, den Freifahrtschein, sie können sich scheinbar zu den Sorglosen zählen. Dabei ist das eine Illusion.

Denn wie kurz der Zeitrahmen ist, in dem sie diesen Freifahrtschein nutzen können, wird kaum kommuniziert. Dabei ist es nach zwei Monaten wieder vorbei mit der großen Freiheit. Dann kann man sich wieder leichter anstecken, und steckt auch andere wieder leichter an. Wer aber pfeift dann all jene wieder zurück, die sich jetzt gerade innerlich entspannen, künftig wieder aufs Testen verzichten und mit Sicherheit auch den Abstand schleifen lassen?

Das führt zum zweiten Kritikpunkt: die Irreführung. Was wir brauchen, sind klare und verständliche Regeln, damit die Menschen bei der Stange bleiben. Was jetzt entschieden wurde, klingt einfach: k eine Quarantäne für Geboosterte , für alle anderen schon. Dabei ist das ganze Ding eine Mogelpackung.

Zu guter Letzt bleibt der Eindruck, dass es vordergründig nur darum geht, die Menschen zum Boostern zu kriegen. Wer sich bereits zum dritten Mal impfen lassen hat, muss die wenigsten Einschränkungen hinnehmen, darf zum Beispiel auch ohne Test ins Restaurant. Natürlich brauchen wir alle den Booster – aber dieses System aus Belohnung und Abschaffung medizinisch relevanter Strukturen ist schon mehrfach schiefgegangen, zuletzt bei der Abschaffung der kostenlosen Corona-Tests im Herbst.

Wie viel Menschen mehr sich deshalb immunisieren ließen, weiß wohl keiner. Dass wir damit jedoch den Überblick über die Infektionszahlen endgültig verloren haben, ist hinreichend belegt. Bleibt abzuwarten, wie es mit der Quarantänebefreiung weitergeht. Ob die Idee gut war, merken wir, wenn die ersten Geboosterten Impfdurchbrüche haben. Was dann kommt, weiß noch niemand. Die vierte Impfung vielleicht – oder aber eine rasant durchgezogene Gesetzesänderung, dass Geboosterte nach 60 Tagen zwingend auch wieder in Quarantäne müssen.

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