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Adventskalender: Kommerz-Katastrophe oder absolutes Muss?

Ivonne Michel und Anneke Quasdorf

Adventskalender-Kritikerin: Anneke Quasdorf - © c
Adventskalender-Kritikerin: Anneke Quasdorf (© c)

Pro (Ivonne Michel)

Adventskalender-Fan: Ivonne Michel - © Sarah Jonek
Adventskalender-Fan: Ivonne Michel (© Sarah Jonek)

Klar geht’s auch ohne. Genauso, wie ohne Riesenpyramide auf dem Jahnplatz, den zweiten Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt, das feine Menü bei der Firmenweihnachtsfeier oder ohne echten Tannenbaum. Verzichten kann man auf vieles. Und kann an allem das Negative sehen. Reiner Kommerz: Die immer üppiger werdenden Adventskalender mit ganzen Spielwaren- oder Parfümkollektionen oder 1.000 anderen Produkten, die es heute überall zu kaufen gibt, haben nichts mehr zu tun mit der Adventskalender-Tradition, die ich seit Kindheitstagen kenne und bis heute hochhalte.

Konsumschlacht oder liebevolle Tradition? Beim Adventskalender haben unsere Autorinnen, obwohl beide Mütter, ganz unterschiedliche Ansichten. - © Anneke Quasdorf
Konsumschlacht oder liebevolle Tradition? Beim Adventskalender haben unsere Autorinnen, obwohl beide Mütter, ganz unterschiedliche Ansichten. (© Anneke Quasdorf)

Da habe ich hingegen früh gelernt: Es kommt nicht auf den Geldbeutel, sondern auf kreative, persönliche Ideen an, die oft wenig oder gar nichts kosten. Und: Verschenken und Teilen gehört dazu und macht Freude. Einen Tag meine Zwillingsschwester, am nächsten dann ich: Auch über 40 Jahre später erinnere ich mich noch genau an den mit roten Äpfeln und gelben Sternen gedruckten Adventskalender aus robustem Jutestoff, den unsere Mutter Jahr für Jahr für uns bestückt hat.

An die einfache Lupe, ein Werbegeschenk aus der Apotheke. Den kleinen Post-it-Block mit Pferdmotiv - Ausschuss aus der Druckerei, in der sie gearbeitet hat - oder andere Kleinigkeiten, die oft nichts gekostet haben und die sie schon frühzeitig im Jahr zur Seite gelegt hat. Viele Dinge, die man gut gebrauchen kann, aber nicht einfach so bekam, sondern persönlich ausgesucht und nett verpackt im Adventskalender. Und so ist der Kalender auch bei uns mit wenig Aufwand sinnvoll und abwechslungsreich gefüllt: früher mit den ersten dicken Buntstiften (da war schon die Hälfte der Päckchen gefüllt), heute mit Armina-Zahnbürsten, Pistaziencreme für die angesagte Dubaischokolade, die wir dann an einem Abend zusammen machen, den Karten fürs Weihnachtsmärchen, die aktuelle Banksy-Ausstellung oder Tierfutter für den Olderdissen-Weihnachtsspaziergang.

Erster Adventskalender vom Sohn

„Nein, bitte nicht!“, so die entsetzte Antwort meiner großen Jungs auf die Frage, ob wir’s denn nicht langsam lassen sollen mit dem Adventskalender. Und, ich gebe es zu, das macht mich froh. Denn auch mir macht’s Spaß, Jahr für Jahr kreativ zu werden. So endete der Kalender 2022 für meinen ältesten Sohn - zugeschickt ins Auslandssemester auf Sardinien - mit Päckchen 16: Ein Foto unseres Hundes mit Weihnachtsmütze zu Hause unterm Tannenbaum, dazu der QR-Code zu „Driving Home for Christmas“ auf Spotify, passend zu seinem Flugdatum nach Hause. Kitschig? Mag sein. Aber bei uns gehört der Adventskalender einfach zum Weihnachtszauber.

Wie auch das Teilen: So gab’s für eine Grundschulklasse, in der laut Lehrerin zu Hause kaum ein Kind ein eigenes Buch hatte, einen Adventskalender mit 24 Päckchen mit gut erhaltenen, aussortierten Kinderbüchern von uns. Und ich war gerührt, als ich vor ein paar Tagen einen Adventskalender von meinem Sohn bekommen habe: einen mit Mini-Stückchen Marzipan aus Lübeck, der Heimat meiner Mama. Auch das gehört bei uns zu Weihnachten dazu - und hat in diesem Jahr eine besondere, sehr persönliche Bedeutung für mich. Genau daran hat er gedacht. Also: keine verzogenen Blagen, die im Konsumrausch den Blick für das Wesentliche verloren haben. Ganz im Gegenteil!

Contra (Anneke Quasdorf)

Es gibt zurzeit zwei Themen, an denen niemand vorbeikommt: Black Friday und Adventskalender. Beides bedingt sich in Sachen gnadenloser Konsum gegenseitig aufs Hässlichste. Höher, schneller, weiter, teurer, glitzernder, größer, den Superlativen sind keine Grenzen gesetzt. Es ist diese Seite der Vorweihnachtszeit, die dazu führt, dass ich dem Adventskalender in seiner heutigen Form nichts mehr abgewinnen kann - gerade weil und vor allem seit ich Mutter bin und achtsames Schenken für mich eine andere Bedeutung bekommen hat.

Wer jemals ein Kind im absoluten Geschenke-Rausch erlebt hat, weiß, wovon ich spreche. Päckchen um Päckchen wird gegrabscht, das Papier abgefetzt, je nach Inhalt kurz gejubelt oder manierlich „Danke“ gesagt, und weiter geht die Schlacht. „Wahnsinn, wie konsumgetrieben schon Kinder sind“, sagte mir dazu neulich ein anderer kinderloser Gast auf einem Geburtstag. Darüber dachte ich lange nach und kam zu dem Schluss: Das stimmt so nicht. Kinder sind nicht per se konsumgetrieben, aber sie sind unfassbar leicht darauf zu trainieren. Und nie tun wir das intensiver als in der Vorweihnachtszeit - gerade mit dem Adventskalender.

Der besteht ja vielerorts längst nicht mehr aus Türchen oder wenigstens Tütchen besteht, sondern windet sich als Paket-Girlande durch Wohnzimmer und Treppenhäuser. Ich frage mich angesichts dieser vorweihnachtlichen Geschenke-Schlacht immer, was bei diesen Familien an Nikolaus im Stiefel steckt und an Heiligabend für die Kinder unter dem Baum liegt - die erste eigene Doppelhaushälfte?

Adventskalender verkommt zum Stressfaktor

Es gibt neben der Konsum-Erziehung aber auch noch ein weiteres wichtiges Argument gegen den Adventskalender von heute: die Elterngesundheit. Die leidet vielerorts und besonders bei Müttern erheblich unter den eigenen Ansprüchen. Schön soll der Kalender sein, liebevoll und am besten selbst gebastelt, der Inhalt besonders, nicht überladen, aber dennoch auf den Punkt die Wünsche treffend, auch gerne mal gesund und bewusst und so gewählt, dass hinterher nicht alles in irgendwelchen Ecken rumfliegt... Und auch entspanntere oder anspruchslosere Eltern müssen, je nach Kinderzahl, jedes Jahr immerhin wieder 24, 48, 72 oder gar 96 Überraschungen besorgen.

Und so ist, was einst mal das lange Warten auf Weihnachten versüßen sollte, vor allem zu einem gigantischen Stressfaktor auf der Weihnachts-Mental-Load-Liste verkommen. Schade, Schokolade.

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