Gütersloher Kinder mit Tabletten ruhiggestellt: Erschütternde Fälle rücken in den Fokus

Gütersloh. Kinder und Jugendliche waren in Heimen und in der Psychiatrie früher einem massiven Missbrauch von Medikamenten ausgesetzt. Das geht aus einer Studie hervor, die unlängst das Gesundheitsministerium des Landes vorlegte.

Die Studie, 240 Seiten dick, befasst sich in einigen Kapiteln auch mit Vorfällen bei der Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) in Gütersloh. Demnach mussten Kinder teilweise über lange Zeiträume Pillen schlucken, nur um sie zu sedieren, zu kontrollieren und gefügig zu machen. Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann spricht von &bdquo;Gräueltaten“.

Erstellt hat die Studie ein Wissenschaftlerteam der Universitäten Düsseldorf, Hildesheim und des Deutschen Institut für Heimerziehungsforschung. Die Forscher bestätigen bisherige Ergebnisse und führen sie zusammen. Eine ihrer zentralen Aussagen: &bdquo;Es handelte sich nicht um Einzelfälle, sondern um weitverbreitete, oft institutionell verankerte Praktiken. In ihrer Gesamtheit führt die Studie uns das schreckliche Ausmaß des Missbrauchs vor Augen.“

Wer störte, wurde mit Pillen und Zäpfchen diszipliniert Vorsichtig geschätzt, waren demnach rund 20 Prozent der Heranwachsenden dem Missbrauch ausgesetzt. Viele erhielten routinemäßig Psychopharmaka, die sonst der Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen vorbehalten waren; sie erhielten die Pharmaka nicht aus medizinischer Notwendigkeit, sondern zur &bdquo;Erleichterung des Heimbetriebs“.

Anders gesagt: Die Kinder wurden ruhiggestellt. Wer störte, wurde mit Pillen und Zäpfchen diszipliniert. Einige Medikamente, so die Studie, wurden zu Forschungszwecken verabreicht. Auf diese Weise machte man die Kinder und Jugendlichen &bdquo;zu medizinischen Versuchsobjekten. Ihr Einverständnis wurde nicht eingeholt, die Risiken nicht erklärt, die Folgen nicht abgeschätzt.“ Opfer wurden viele Kinder auch in anderer Hinsicht.

&bdquo;Vor allem die Verflechtungen mit Gewaltpraktiken und die Verbindung mit sexualisierter Gewalt waren umfassender als bisher angenommen.“ Dokumentiert sind Fälle aus der Nachkriegszeit von 1946 bis 1980. Sie hätten schon damals den Normen und Rechtsurteilen widersprochen, betont Studienleiter Heiner Fangerau.

Betroffene selbst brachten das Thema an die Öffentlichkeit Informanten seien aber nicht gehört oder sogar bedroht worden. Das Land NRW und die Träger der Einrichtungen hätten ihre Aufsichtspflichten &bdquo;nur unzureichend“ wahrgenommen. Ärzte und Apotheker stünden ebenfalls in der Verantwortung. Am Ende waren es die Betroffenen selbst, die das Thema an die Öffentlichkeit brachten.

Für Gütersloh umfasst die Studie die Jahre von 1952 bis 1965. Die Westfälische Provinzialverwaltung hatte eine Abteilung für Jugendpsychiatrie gegründet und auf das LWL-Klinikgelände nach Gütersloh verlegt, wo sie 13 Jahre blieb, bis sie in einen Neubau nach Hamm umzog. Deutlich wird: Auch in Gütersloh war der Medikamentenmissbrauch gängige Praxis. Mehr als jedes fünfte Kind war ihm ausgesetzt.

Aufgebaut und geleitet wurde die Abteilung von der Neurologin Elisabeth Hecker. Sie galt als eine Pionierin der Kinder- und Jugendpsychiatrie, zugleich gibt es laut der Studie &bdquo;eindeutige Hinweise, dass sie während der Zeit des Nationalsozialismus aktiv an der Kinder-Euthanasie beteiligt war“; gegen Hecker lief deswegen auch ein Ermittlungsverfahren, das aber 1974 eingestellt wurde, unter anderem wegen Verjährung.

Diagnosen konnten entscheidend für den weiteren Lebensweg sein Nach Heckers Angaben nahm die Gütersloher Klinik Heranwachsende im Alter von zwei bis 21 Jahren auf. In den meisten Fällen war &bdquo;Erziehungsschwierigkeit“ der Grund für die Einweisung. Durchschnittlich mussten die jungen Menschen vier bis sechs Wochen bleiben, bis ihre Diagnose feststand – ein Urteil, das für ihren weiteren Lebensweg entscheidend sein konnte. Erschwerend wirkt, dass die KJP Gütersloh eine hervorgehobene Rolle einnahm: Sie fungierte für ganz Westfalen als Beobachtungsstation und Gutachterklinik.

Missbräuchlichkeit lag für das Forscherteam vor, &bdquo;wenn der Einsatz oder der Umfang der Medikamentenvergabe die Menschenwürde oder die jeweiligen zeitgenössischen Grenzen der ethischen, juristischen oder medizinischen Norm verletzte oder erkennbar mehr Schaden als Nutzen für das Kind mit sich brachte“. Mit im Blick nahmen sie den Zwangskontext: Die Kinder fühlten sich in den Einrichtungen ausgeliefert.

In der KJP Gütersloh und ihrem Nachfolger KJP Hamm setzte das Pflegepersonal laut der Studie selbst starke Medikamente eigenständig ein, vor allem nachts. Um die Kinder ruhig zu stellen, &bdquo;wurde neben Neuroleptika und anderen psychotrophen Medikamenten auch Insulin gegeben. Dieses Insulin konnte zu einer vermehrten Essensaufnahme, Hypoglykämien oder anderen Nebenwirkungen führen.

&bdquo;Dummes Geschwätz stellte es nicht ein“, heißt es in Patientenakte Die Gaben und Kombinationen konnten umfangreich sein. In der KJP Gütersloh wie auch im Wittekindshof bei Bad Oeynhausen kam es zu einzelnen Todesfällen, die mit einer umfangreichen Medikamentenabgabe in Verbindung gestanden haben könnten“, heißt es. Die kausalen Zusammenhänge lassen sich im Nachhinein nicht mehr feststellen.“

Wie schnell in Gütersloh zu Pillen gegriffen wurde, belegen Zahlen. Nach Start der KJP 1952 verdoppelte sich der Anteil der Kinder und Jugendlichen laut der Studie binnen fünf Jahren von 13,5 auf 27,3 Prozent. &bdquo;Ebenso wurden in dieser Zeit regelmäßig Insulinkuren an Minderjährigen angewendet bei Indikationen wie Stimmungslabilität, Depressivität, Haltlosigkeit oder Geltungssucht.“ In Einzelfällen seien auch nicht registrierte Medikamente verabreicht worden.

Die Studie ist detailreich, zitiert über mehrere Seiten hinweg aus Gütersloher Patientenakten. Über eine 17-Jährige: &bdquo;Das Mädchen wurde medikamentös mit Psychoquil behandelt. Erst unter recht hoher Dosierung wurde es etwas ausgeglichener, war nicht mehr so umtriebig und ließ sich anleiten. Sein dummes Geschwätz stellte es trotzdem nicht ein.“

15-Jähriger wurde vier Tage lang in einen Dauerschlaf versetzt Über einen 21-Jährigen: &bdquo;Unter der speziellen Behandlung mit Hormonen und Hovaletten hat er keinerlei sexuelle Gefühle mehr.“ Über einen Siebenjährigen: &bdquo;Wir haben durch die Dämpfung mit Verophen seine Gemeinschaftsfähigkeit erheblich bessern können.“ Über eine Sechsjährige: &bdquo;Schlägt ab und zu über die Stränge, ist aber sonst unter Atosil gut zu leiten.“ Über einen 15-Jährigen: &bdquo;Schon morgens nach dem Wecken geht die Rederei los, auch Melleril hilft nicht besonders.“

Aus dieser Auflistung – rund 30 Fälle – ergibt sich laut Forscher eindeutig, dass die Tabletten disziplinieren, teils auch betäuben sollten. In einem Fall wurde ein Junge (15) auf Anordnung des Oberarztes vier Tage in Dauerschlaf versetzt. Oft waren die Diagnosen unpräzise und lauteten &bdquo;Schwachsinn“ oder &bdquo;hirnorganische Schäden“. Bei 132 untersuchten Fällen stand das in nahezu jeder zweiten Akte.

Klinikleiterin Hecker sprach sich in einem 1955 veröffentlichten Aufsatz über die KJP Gütersloh dafür aus, schon &bdquo;Frühfälle“ einzuweisen. &bdquo;Unter den Asozialen, Fürsorgezöglingen, Kriminellen finden wir in der Vorgeschichte eine Reihe von Konstellationen, die die Vermutung berechtigt erscheinen lassen, dass bei frühzeitiger Erkennung manches hätte vermieden werden können.“

Viele Kinder waren auch Medikamententests ausgesetzt Etliche Seiten der Studie schildern Medikamententests, denen die Kinder und Jugendlichen in Gütersloh ausgesetzt waren, ohne Wissen und Einwilligung der Eltern. Als Beleg ziehen die Forscher weitere Patientenakten heran, aber auch Briefwechsel mit Pharma-Firmen aus den Jahren 1958 und 1959.

Darin dankt der auf Hecker folgende Helmut Hünnekes, der die KJP von 1961 bis 1981 in Gütersloh und später auch in Hamm leitete, einem Unternehmen &bdquo;für die freundliche Überlassung von Versuchsmustern des Mittels Tufranyl“, eine Substanz, die offiziell noch gar nicht auf dem Markt verfügbar war.

Der Wirkstoff Imipramin sollte bei Depressionen helfen, wurde aber oft auch gegen Bettnässen eingesetzt. In einem anderen Schreiben bedankte sich Klinikleiter Walter Schulte bei einer Firma für das Angebot, ein bestimmtes Psychosedativum zu schicken, ein Angebot, das er gerne annehme und das offenbar für die KJP bestimmt war.

Die Opfer erhalten Entschädigung - doch das Leid wirkt nach Erwähnt werden auch Versuche mit Glutaminsäure. Diese Substanz stand Anfang der 1950er-Jahre bei vielen Kliniken hoch im Kurs, auch in Gütersloh. Weil man annahm, es habe eine fördernde Wirkung auf die geistige Funktion des Menschen, taufte es das Nachrichtenmagazin &bdquo;Der Spiegel“ als das &bdquo;Pulver gegen Dummheit“. Den Heranwachsenden wurde es morgens in einem Frühstücksgetränk verabreicht; später erkannte man, dass die Glutaminsäure doch nicht wie erhofft wirkte, womit die Theorie, &bdquo;Schwachsinn“ sei eine Mangelkrankheit, widerlegt war.

Bei der Vorstellung der Studie in Düsseldorf sagte Minister Laumann, die Kinder und Jugendlichen hätten &bdquo;Unfassbares“ erlitten. &bdquo;Es tut mir von Herzen leid, dass Einrichtungen, die ein Zuhause hätten sein sollen, zu Orten der Qual wurden – mit Folgen, die bis heute nachwirken.“ Betroffenen wurde inzwischen rund hundert Millionen Euro an Entschädigung gezahlt. &bdquo;Kein Geld und keine Unterstützung der Welt können aber wiedergutmachen, was den Betroffenen angetan wurde“, so Laumann.

Einsehbar ist die Studie über die Internetseite des Ministeriums (www.mags.nrw). Wer damals in der Gütersloher KJP untergebracht war, erhält beim LWL-Archivamt für Westfalen Akteneinsicht. Seit 1965 ist die KJP in Hamm angesiedelt, sie unterhält jedoch in Gütersloh eine Dependance. Diese wurde erst kürzlich, im April, unter dem Namen &bdquo;Klinik im Füchtei“ eröffnet. Auf zwei Stationen ist dort Platz für bis zu 27 Patienten.

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