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Psychologe zum tausendfachen Missbrauch: "Täter suchen die enge Bindung zu den Kindern"

Heike Krüger

Im lippischen Lügde: Windspiele an einem Gebäude auf dem Campingplatz „Eichwald“. Auf dem Gelände waren Kinder für Pornodrehs missbraucht worden. Drei Tatverdächtige sitzen in U-Haft. Foto: DPA - © Guido Kirchner
Im lippischen Lügde: Windspiele an einem Gebäude auf dem Campingplatz „Eichwald“. Auf dem Gelände waren Kinder für Pornodrehs missbraucht worden. Drei Tatverdächtige sitzen in U-Haft. Foto: DPA (© Guido Kirchner)

Bielefeld/Hannover. Das Ausmaß der Übergriffe ist monströs. Und es macht fassungslos: Mehr als 1.000 Mal sollen Mädchen und Jungen auf dem Campingplatz „Eichwald" in Lügde über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren sexuell schwer missbraucht worden sein. Der 56-Jährige mutmaßliche Haupttäter soll dabei ein perfides System aus Zuwendung, Belohnung und Bedrohung der Kinder installiert haben, das dafür sorgte, dass der Missbrauch so lange im Verborgenen stattfinden konnten.

Bei dem 56-Jährigen könne von einem „klassischen Täterprofil" ausgegangen werden, hatte der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, gegenüber Medien geäußert.

„Kleine Kinder können das widersprüchliche Verhalten der Täter nicht einordnen", erläutert Prof. Thomas Bliesener, Psychologe und Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN). „Die Täter sind oft zugewandt, hören den Kindern zu, sie bauen eine Bindung auf", sagt der Nachfolger des einst viel zitierten Professor Christian Pfeiffer.

Psychologe: Professor Thomas Bliesener, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover. Foto: Universität Kiel - © Universität Kiel
Psychologe: Professor Thomas Bliesener, Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts in Hannover. Foto: Universität Kiel (© Universität Kiel)

Manchmal würden Kinder sediert, um Schmerzen abzumildern

Dann fänden die sexuellen Übergriffe und Missbräuche statt, die den Kindern zwar unangenehm seien, doch fehlten besonders sehr jungen Opfern noch die passenden Vorstellungen von Richtig und Falsch.

„Die Täter reden ihnen ein, dass dies ein völlig normales Verhalten zwischen liebevollem Erzieher und Schutzbefohlenem sei", schildert Bliesener die unheilvolle Dynamik. Manchmal würden Kinder auch sediert, um eventuelle Schmerzen, die der Missbrauch verursache, abzumildern. Oder diese würden den Kindern als notwendiges Übel verkauft, wie sie etwa mit einem Besuch beim Kinderarzt und damit verbundenen medizinischen Eingriffen zu ertragen seien.

Zusätzlich greifen „Verschwiegenheitsgebote". Man habe „ein Geheimnis" mit dem Täter, über das keinesfalls geredet werden dürfe, um das Gefüge nicht zu gefährden. Sollte sich das Kind anderen anvertrauen, drohen die Täter mit Liebesentzug und dem Entzug von Geschenken, das Kind sei „böse", fühle sich ohnehin mitschuldig und müsse dann vielleicht ins Heim, das der Täter ihm zuvor in düstersten Farben ausmale. Da die meisten sexuellen Missbräuche im Nahfeld der Opfer stattfinden, sei es besonders schwierig, diese Mechanismen auszuhebeln.

"Missbrauch tritt in allen Schichten, in Stadt und Land auf"

Bei aller vermutlich begründeten Kritik an Versäumnissen von Jugendämtern und anderen Behörden, die offenbar auch in diesem Fall schon vor Jahren von besorgten Eltern auf dem Campingplatz auf den Plan gerufen worden waren, gibt Bliesener zu bedenken: „Wenn Kontrollen angekündigt werden, kriegen es solche Täter meist gut hin, die Fassade hochzuhalten." Die Wohnung werde auf Vordermann gebracht, das Kind eingenordet zu sagen, dass es ihm an nichts fehle. So sei es durchaus realistisch, dass das komplette Umfeld – so wie im aktuellen Fall Campingplatzbesitzer, Eltern betroffener Kinder und andere Camper – hinter dem freundlichen, hilfsbereiten Auftreten des 56-Jährigen keineswegs die Monstrosität vermutet haben, die nun ans Tageslicht gekommen ist.

Dass es sich bei den Opfern häufig um Kinder und Jugendliche handele, die sozial unsicher eingebunden oder gar vernachlässigt werden, mag Bliesener nicht bestätigen. „Missbrauch tritt in allen Gesellschaftsschichten, in der Großstadt wie auf dem Land auf."

Allerdings habe es der Täter von Lügde im Falle des ihm anvertrauten, heute achtjährigen Pflegekind möglicherweise deshalb leichter gehabt emotional einzuschüchtern, weil es aus einer unsicheren Bindung zu einer überforderten Mutter gekommen sei. Kinder, die bereits Verlust erlebt haben, seien noch weniger in der Lage als andere, weiteren drohenden Verlust von Bezugspersonen zu tolerieren.

Behörden-Mitarbeiter sind oft nicht ausreichend geschult

Was die geschädigten, bislang 23 Kinder aus dem Umfeld des Haupttäters und seiner beiden Mittäter nun brauchen, bestätigt der Experte, sei eine umsichtige, individuelle Betreuung. Je nachdem wie alt die Kinder seien, begreifen sie sich erst jetzt, auch durch die hohe mediale Aufmerksamkeit, als Opfer. Manche erlitten die weitreichenden Auswirkungen sexuellen Missbrauchs erst wieder in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter. „Man muss vorsichtig abwägen, ob man ihnen die Tatsache, dass sie Opfer geworden sind, jetzt zuträgt". Schutz und auch Abschirmung durch gut ausgebildete Therapeuten seien das Gebot der Stunde.

Ob die Jugendämter im Kreis Lippe und im Kreis Hameln-Pyrmont im Hinblick auf frühe Hinweise schwere Versäumnisse auf sich geladen haben, müssten die weiteren Ermittlungen zeigen, sagt der Psychologe. Allgemein lasse sich feststellen, dass die Ämter personell oft nicht gut genug ausgestattet, Mitarbeiter im Hinblick auf das Erkennen von Missbrauch nicht ausreichend geschult seien.

Die Tatsache, dass hier ein Mann als Dauercamper allein mit dem kleinen Mädchen auf dem Platz lebte, müsse nicht per se verdächtig sein. „Man darf solche Lebensverhältnisse nicht unter Generalverdacht stellen", müsse allerdings auf jeden Fall immer genau hinschauen.

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