Bad Salzuflen. Sind Visiere in Nordrhein-Westfalen doch keine erlaubte Alternative zur textilen Mund-Nasen-Bedeckung (MNB)? Oliver Voßhenrich ist verwirrt. Er ist Geschäftsführer des Salzufler Unternehmens POS Tuning und hat die Fertigung seiner Firma für die Zeit der Krise auf die Herstellung von ebensolchen Visieren umgestellt. Dass die in Nordrhein-Westfalen nun doch kein Ersatz für die textile Variante mehr sein sollen, ist für ihn und seine Mitarbeiter ein Schock. Auch, weil es bislang keine offiziellen Tests gibt, die eine solche Entscheidung rechtfertigen.
„Eine Katastrophe"
Mit Beginn des Lockdowns Mitte März hat Oliver Voßhenrich gemeinsam mit seinen Mitarbeitern die Idee zum Visier entwickelt, das als sogenannte „CapMask" an eine gängige Schirmmütze geknipst werden kann. In nur zwei Wochen standen die ersten Visiere zum Verkauf bereit. „Allein in der vergangenen Woche haben wir mehr als 50.000 Stück deutschlandweit verkauft, zudem haben wir aktuell Material für 250.000 Visiere vorrätig", erzählt Oliver Voßhenrich am Telefon.
Die nun entstandene Verwirrung um den Einsatz solcher Visiere trifft das Salzufler Unternehmen umso härter: „Einige Händler haben aufgrund der Unklarheit ihre Aufträge bereits wieder storniert", sagt Voßhenrich. Die Situation sei so gesehen „eine Katastrophe" für POS Tuning, da auch die Warenvorschubsysteme, die hier sonst produziert werden, derzeit kaum nachgefragt würden. „Die Einzelhändler investieren aktuell eher in Schutzausrüstung. Und dazu wollten auch wir unseren Beitrag leisten", sagt Voßhenrich.
EU-Richtlinie als Basis
Dabei ist der Geschäftsführer von POS Tuning nicht etwa blauäugig in das Projekt gestartet. „Wir haben die ,CapMask prüfen und als persönliche Schutzausrüstung (PSA) nach EU-Norm zertifizieren lassen", erklärt Oliver Voßhenrich. In der EU-Richtlinie sei auch keine Rede davon, dass eine textile Lösung gefordert sei. Das Problem: Die Behörden der einzelnen Bundesländer entscheiden laut Voßhenrich selbst, wie sie diese EU-Direktive auslegen. „Daher fordern nun manche Bundesländer wie NRW eine textile Mund-Nasen-Bedeckung und andere wie etwa Hessen sehen auch ein Visier wie das unsere als zulässig an."
Neben einem eigenen Versuchsaufbau in der Salzufler Firma hat POS Tuning zudem verschiedene wie die Stiftung Warentest oder das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt angeschrieben und um offizielle Test zur Wirksamkeit von Masken und Visieren gebeten. „Einen konkreten Termin, wann fundierte Erkenntnisse vorliegen könnten, konnte man uns aber nicht nennen. Bis dahin hängen wir in der Luft", sagt Oliver Voßhenrich. Er wünscht sich für sich und seine Kunden zumindest Klarheit. „Sollten wir aber nicht mehr verkaufen können, hätten wir einen hohen sechsstelligen Betrag fehlinvestiert."
Keine Alternative
Die Pressestelle des Gesundheitsministeriums NRW erklärt auf Nachfrage, dass das Tragen eines Visiers den Schutz vor einer Übertragung von Covid-19 durch Aerosole in der Atemluft oder beim Niesen nicht in der gleichen Weise sicherstelle wie eine eng am Gesicht anliegende Mund-Nasen-Bedeckung – letztere habe aus Gründen des Infektionsschutzes daher eindeutig Vorrang.
Dabei verweisen die Mitarbeiter auch auf das Robert Koch-Institut, das auf seiner Internetseite ebenfalls das Tragen einer MNB empfiehlt, um das Risiko, Dritte anzustecken, zu verringern. Dort heißt es jedoch auch: „Eine solche Schutzwirkung ist bisher nicht wissenschaftlich belegt, sie erscheint aber plausibel."Durch das Tragen einer MNB könne jedoch zumindest die Geschwindigkeit des Atemstroms oder des Tröpfchenauswurfes minimiert werden. „Visiere dagegen könnten in der Regel maximal die direkt auf die Scheibe auftretenden Tröpfchen auffangen", schreibt das RKI. Und: „Die Verwendung von Visieren kann daher nach unserem Dafürhalten nicht als gleichwertige Alternative zur MNB angesehen werden."
Gleichzeitig verweist man dort jedoch auch auf die „durchaus geringe Datenlage" und die „Zuständigkeit der Länder" in der konkreten Ausgestaltung der Infektionsprävention. Genau das kann Oliver Voßhenrich allerdings nicht nachvollziehen. „Weder ein Mund-Nasen-Schutz noch ein Visier bieten 100-prozentigen Schutz. Aber weshalb sollte ein Mundschutz dann besser sein als ein Visier?", fragt er sich. Schließlich gebe es dazu bislang keine offiziellen Tests. Er könne mit einem Verbot des Visiere durchaus leben. „Wenn es denn Belege dafür gäbe", sagt er.
Ordnungsamt informiert
Im Bad Salzufler Ordnungsamt weiß man um die Bestimmungen aus der Coronaschutzverordnung, in der klar „das Tragen einer textilen Mund-Nasen-Bedeckung" empfohlen wird. „Ein explizites Verbot von Visieren enthält die Verordnung nicht. Das ist auch nicht nötig, denn Visiere stellen einfach keine textile Mund-Nasen-Bedeckung dar", schreibt die Pressestelle des Gesundheitsamtes dazu. Das Salzufler Ordnungsamt geht daher eigenen Aussagen nach maßvoll vor. „Wenn uns Menschen mit Visieren auffallen, sprechen wir sie an und bitten sie darum, eine Mund-Nasen-Bedeckung zu tragen", heißt es von der Pressestelle der Stadt. Ausnahmen aus medizinischen Gründen seien erlaubt und zu belegen. Im schlimmsten Fall könne aber auch ein Bußgeld verhängt werden.
Visiere an Schulen: Auch die Stadt Bad Salzuflen setzt auf Visiere: Für die Schulen im Stadtgebiet seien gut 100 Stück bestellt worden, damit sie von Lehrern im Klassenraum getragen werden können. „Das ist zwar nicht vorgeschrieben, als Ergänzung jedoch durchaus sinnvoll", so die Pressestelle. Im Detmolder Felix-Fechenbach-Berufskolleg (FFB) ist man sogar noch einen Schritt weiter gegangen, hat Schutzvisiere entwickelt und diese kreiseigenen Förderschulen im Bereich geistige sowie emotionale und soziale Entwicklung zur Verfügung gestellt. Denn gerade dort lasse sich der geforderte Mindestabstand häufig nicht einhalten, heißt es in einer Pressemitteilung. Zwar gilt auch dort weiterhin das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung in bestimmten Bereichen. Visiere könnten aber ergänzend eingesetzt werden.
Bedarf dafür besteht zum Beispiel an der Astrid-Lindgren-Schule in Lemgo-Leese, wo aktuell im Rahmen der Notbetreuung pflegerische oder therapeutische Maßnahmen erforderlich sind. Schulleiterin Gudrun Laag verdeutlicht, dass dabei die Mund-Nase-Masken oft nicht ausreichen: „Wir sind sehr froh über die Visiere, weil wir uns damit noch zusätzlich vor einer Tröpfcheninfektion schützen können." Für Martin Gerling, Schulleiter der Christian-Morgenstern-Schule in Detmold, ist es zudem wesentlich, mit den Kindern über Mimik zu kommunizieren: „Es ist für unsere Schüler wichtig, dass sie unsere Blicke richtig verstehen. Diese Visiere helfen uns im Unterricht unter den aktuellen Bedingungen sehr, auch wenn sie Schutzmasken nicht ersetzen können."?
Auch die lippische Kreisverwaltung hat dort, wo gehörlose Mitarbeiter beschäftigt sind, bereits einige solcher Visiere im Einsatz. „Durch die Schutzmasken ist die Kommunikation für diese Menschen praktisch abgeschnitten, weil sie die Mimik ihres Gegenübers nicht mehr komplett wahrnehmen können. Die von uns hergestellten Visiere erleichtern da die Zusammenarbeit im Berufsalltag deutlich," so FFB-Schulleiter Wolfgang Wilden in der Mitteilung.
Bedingt durch die Schulschließungen konnte am FFB zuletzt kein Fachpraxisunterricht erfolgen - die freien Kapazitäten haben die Werkstattlehrer im Metall- und Holztechnikbereich daher kreativ genutzt und innerhalb weniger Tage gepolsterte und individuell einstellbare Visiere entwickelt.
"Der Wirrwarr geht weiter"
Ein Kommentar von Alexandra Schaller
Wussten Sie, dass sich das Coronavirus in Hessen anders verbreitet als in NRW? Das könnte man zumindest meinen, wenn man die unterschiedlichen Regelungen zur Zulässigkeit von Visieren anstelle von Masken recherchiert.
Aber Spaß beiseite: Was soll die ganze Verwirrung und die Ungewissheit, was nun erlaubt ist und was nicht? Es wird Zeit, dass alle Länder eine klare Linie zur Eindämmung der Pandemie fahren. Sonst entsteht nur immer wieder neuer Nährboden für all diejenigen, die das Virus leugnen und für immer verrücktere Verschwörungstheorien auf die Straßen gehen.