Detmold. Der Krieg im Nahen Osten ist längst auch in deutschen Klassenzimmern angekommen – und er reicht bis nach Lippe. Während vielerorts Unsicherheit und Polarisierung wachsen, setzt das Detmolder Grabbe-Gymnasium ein Zeichen: Seine Israel-AG steht für Aufklärung statt Vorurteile, für Austausch statt Abschottung, die Erinnerungskultur. Hier versuchen Jugendliche, zu verstehen, was selbst Experten schwer erklären können – die Geschichte der Juden in Deutschland und den jahrzehntelangen Konflikt um Israel. Aber die Zukunft dieses einzigartigen Projektes ist ungewiss. Eine Partnerschaft, die Geschichte schreibt Seit 2007 verbindet das Christian-Dietrich-Grabbe-Gymnasium eine enge Partnerschaft mit der MOR-High-School in Modi’in Maccabim-Re’ut, einer Stadt mit 100.000 Einwohnern zwischen Tel Aviv und Jerusalem. Alle zwei Jahre startet eine neue AG-Runde mit rund 20 Schülerinnen und Schülern der 9. und 10. Klassen. „Es ist keine gewöhnliche Arbeitsgruppe“, sagt Lehrerin Elisabeth Hecker, die das Projekt gemeinsam mit Kristina Panchyrz und anderen Kollegen leitet. „Wir vermitteln Geschichte, Politik und Gegenwart – aber vor allem ermöglichen wir Begegnungen.“ Im Wechsel mit der Karla-Raveh-Gesamtschule Lemgo, die dieselbe Partnerschule hat, reisen die Jugendlichen normalerweise nach Israel und empfangen im Austausch israelische Gäste in Lippe. Doch seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 ruht der Austausch. „Das ist der erste Jahrgang ohne Begegnung“, sagt Panchyrz. „Das schmerzt, weil gerade der persönliche Kontakt den größten Unterschied macht.“ Lesen Sie auch: Gegen das Vergessen: 117 Stolpersteine erinnern in Lippe an die Holocaust-Opfer Lernen aus der Geschichte Die Israel-AG arbeitet interdisziplinär. In Workshops und Exkursionen - überwiegend an den Wochenenden - widmen sich die Jugendlichen 1700 Jahren jüdischer Geschichte auf deutschem Boden, der Schoah und der Gründung Israels. Gemeinsam mit dem Stadtarchiv und lokalen Historikern rekonstruieren sie Biografien ehemaliger jüdischer Bürgerinnen und Bürger. Bei Besuchen aus Israel führten die Detmolder Schüler israelische Gäste selbst durch die Stadt – auf den Spuren jüdischen Lebens. „Wenn unsere Schüler erkennen, dass hier vor Ort jüdische Familien gelebt haben, verändert das etwas“, sagt Hecker. „Es wird greifbar – und das ist der Schlüssel zu echtem Verständnis.“ Neben historischen Themen entstehen Ausstellungen, Stadtführungen und digitale Lernformate. Viele der Jugendlichen investieren dafür Freizeit und Wochenenden. „Es sind sehr engagierte Schüler, die das mit Überzeugung tun“, sagt Hecker. Alle haben sich nach einer Werbetour der Lehrer durch alle Klassen freiwillig für die AG gemeldet. Aktuell sind noch knapp 20 Schüler dabei. Auch lesenswert: Deportation aus Lippe vor 80 Jahren: Der Transport in den Tod Wenn der Konflikt Realität wird Mit dem 7. Oktober 2023 hat sich auch der Fokus der AG ein Stück weit verschoben. Aus dem fernen Konflikt wurde ein Krieg, der täglich in den Nachrichten ist. „Natürlich fragen die Schüler: Was passiert da?“, sagt Panchyrz. „Aber sie erwarten keine einfachen Antworten – und die gibt es in diesem Konflikt auch nicht.“ Begriffe wie „Genozid“, „Besatzung“ und der innerisraelische Konflikt werden thematisiert. Die Ereignisse vom 7. Oktober 2023 sind jetzt Thema in der AG. Die Lehrerinnen sind vorsichtig und maßen sich kein Urteil an. Um die Komplexität zu vermitteln, luden die Lehrerinnen den israelischen Historiker und Reiseleiter Uriel Kashi digital in die AG ein. Er lebt in Jerusalem und schilderte, wie zerrissen Israels Gesellschaft ist und wie vielschichtig die Perspektiven sind. „Er zeigte bei seinem virtuellen Stadtrundgang eindrucksvoll, dass es nie nur Gut oder Böse gibt“, so Hecker. „Die Schüler haben ihm fasziniert zugehört. Er schafft es auch, den Schülern zu zeigen, dass das Leben in Israel trotz allem weitergeht.“ Auch Vertretungslehrer Jan-Christian Ratz, der ein Freiwilliges Soziales Jahr im Westjordanland absolvierte, gab Einblicke in die Vielfalt israelischer Identitäten – von arabischen Israelis bis zu Einwanderern aus Russland oder Marokko. „Allein die Begriffe zeigen, wie komplex das alles ist“, so Panchyrz. „Unsere Schüler merken, wie sensibel man mit Worten umgehen muss.“ Zwischen Fragen, Fakten und Haltung Die AG diskutiert aktuelle Nachrichten, analysiert Quellen und reflektiert das Geschehen kritisch. „Wir maßen uns keine abschließende Bewertung an“, betont Hecker. Wichtig sei, dass jede Meinung auf Wissen beruhe. „Gerade in Zeiten sozialer Medien ist das entscheidend“, ergänzt Panchyrz. „Wir sehen, wie viel Propaganda auf TikTok oder Instagram kursiert. Das überfordert Jugendliche, wenn sie keine Werkzeuge haben, das zu hinterfragen.“ Deshalb gehört Medienkritik fest zum Programm der Schule. Neben dem Stadtarchiv kooperiert die AG mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Lippe, deren Vorsitzende Joanne Herzberg und Petra Hölscher regelmäßig Workshops anbieten. Beide erzählten auch ihre Familiengeschichte. Das Ziel: Wissen aus erster Hand und Begegnung mit Menschen, die Geschichte leben. Dazu: Vor den Nazis geflohen: Detmolder Schüler erinnern das Schicksal von Fritz Herzberg Wie sind die Reaktionen aus der Elternschaft? Einzelne Eltern hätten anfangs skeptisch reagiert, berichten die Lehrerinnen. „Eine Schülerin erzählte, ihre Mutter sei unsicher gewesen, ob die AG einseitig ist“, sagt Hecker. „Aber sie hat schnell gemerkt: Es geht um Dialog, nicht um Propaganda.“ Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an Ein Beitrag geteilt von Grabbe-Gymnasium Detmold (@grabbe_gymnasium) Austausch ohne Begegnung Da Fahrten nach Israel derzeit unmöglich sind, fand im Herbst eine Projektwoche als Ersatz statt. Die Detmolder Schülerinnen und Schüler liefen zum Hermannsdenkmal, besuchten die Wewelsburg und reisten nach Berlin, um sich mit deutscher Erinnerungskultur auseinanderzusetzen. „Wir wollten wenigstens inhaltlich diese Erfahrung des Austauschs erhalten“, erklärt Panchyrz. Auch der Kontakt nach Israel bleibt – über Zoom, Messenger und gemeinsame Projekte, zumindest auf Lehrerebene. „Es sind über die Jahre Freundschaften entstanden“, sagt Hecker. Perspektiven für die Zukunft Für 2027 hoffen Hecker und Panchyrz, den Austausch wieder aufnehmen zu können. Eigentlich wäre im Februar eine Reise nach Israel geplant gewesen. Stattdessen wird die AG nach Hamburg fahren, um dort jüdische Geschichte zu erkunden. „Wir besuchen die Gedenkstätte Neuengamme und die Bornplatzsynagoge im Grindelviertel, um die Verbindung zur jüdischen Kultur lebendig zu halten“, sagt Hecker. Zum Reiseblog der Israel-AG 2025 Falls eine Reise nach Israel weiterhin nicht möglich ist, steht auch eine Kooperation mit dem Riga-Komitee im Raum – einem europäischen Städtebündnis, an dem Detmold beteiligt ist. „Vielleicht treffen wir uns dort mit unseren Partnern – auf neutralem Boden“, so Panchyrz. Ideen gibt es auch in Lemgo. „Wir haben eine konkrete Idee für einen Austausch im nächsten Jahr, müssen das aber erst mit unserer Partnerschule und unserer Schulleitung diskutieren“, sagt die dortige Koordinatorin Renate Zimmermann-Grob. Momentan gebe es lediglich Austausch unter den Lehrenden. Bildung als Brücke Besonders beeindruckend: Ehemalige Teilnehmer der Detmolder AG engagieren sich heute in der Gedenkstättenarbeit oder leisten Freiwilligendienste in Israel und Deutschland. Und genau das sei die wichtigste Lektion: Verständigung braucht Zeit – und Mut. Die Schülerinnen und Schüler merken, dass Bildung und Austausch Brücken schlagen. Trotz Krieg und Unsicherheit halten sie am Austausch fest. In einer Welt, in der Fronten sich verhärten, bleibt das Grabbe-Gymnasium ein Ort, an dem Dialog geübt wird – Satz für Satz, Gespräch für Gespräch. Lemgo und Detmold im Riga-Komitee Das Deutsche Riga-Komitee ist ein europäisches Städtebündnis unter Leitung des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Es erinnert an die Deportation von mehr als 25.000 Jüdinnen und Juden aus Deutschland in das Ghetto Riga sowie an die 26.000 ermordeten lettischen Juden. Im Kreis Lippe gehören Lemgo (seit 2020) und Detmold (seit 2023) dem Netzwerk an. Für beide Städte liegt an der Gedenkstätte Bikernieki bei Riga ein Namensstein. Detmold trat auf Anregung der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Lippe bei. Stadtarchivarin Dr. Bärbel Sunderbrink betonte bei der Einweihung: „Die Geschichte der Verfolgung endet nicht am Bielefelder Bahnhof – sie setzt sich in Riga fort.“ Das Bündnis fördert Austauschprojekte und will Erinnerung als europäischen Dialog lebendig halten.