Zeitzeugnisse aus dem Krieg: Als der Zahnarzt Armbinde und Braunhemd trug

Lage. Das Wohnzimmer von Hans-Joachim Schlichting scheint mit seinen opulent gerahmten Familienporträts und der großen Wanduhr wie aus der Zeit gefallen. Der antik anmutende Holztisch am Fenster ist übersät mit Fotografien, Dokumenten und Berichten. Es sind Zeitzeugnisse vom Zweiten Weltkrieg und dem Deutschen Reich.

Dahinter sitzt der 97-Jährige in einem braunen Ledersessel und lässt seinen Blick über sein Sammelsurium schweifen. Er kennt die Motive aus dem Effeff, hat die abgelichteten Szenerien mit seinen eigenen Augen selbst gesehen. Mit neun Jahren, am 9. Januar 1933, hat Schlichting zum ersten Mal einem Nazi gegenübergestanden.

Kundgebung im Lippischen Landtagswahlkampf Das war bei der Prophylaxe: &bdquo;Der Mann war ein gewisser Doktor Zuleger. Seine Zahnarztpraxis befand sich einige Häuser neben dem Technikum. Als ich an dem Tag bei ihm im Zahnarztstuhl saß, sah ich, dass er unter seinem weißen Kittel eine braune Hose und braune Stiefel trug. Davon war ich ganz überrascht. Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte", schildert Schlichting. Vom Militär hätte der Mann jedenfalls nicht sein können, schlussfolgerte Schlichting schon damals, als neunjähriger Bub: &bdquo;Die trugen nämlich grau."

Später hatte Schlichting erfahren, dass der uniformtragende Zahnmediziner der NSDAP-Ortsgruppenleiter für Lage gewesen war und sich für einen Besuch Adolf Hitlers in der Zuckerstadt zurecht gemacht hatte. Hitler hatte an dem Abend in einem großen Festzelt auf dem Jahnplatz eine NSDAP-Kundgebung im Rahmen des Lippischen Landtagswahlkampfes abgehalten.

Männer in braunen Uniformen marschierten die Eichenallee entlang Schlichting beugt sich über die Armlehne seines Wohnzimmersessels und taucht wenig später mit einem schwarzen Kassettenspieler in der Hand wieder auf. Mit dem Zeigefinger drückt er auf die Abspieltaste. Kurz darauf ist seine eigene Stimme zu hören. Per Kassette lässt Schlichting seine Eindrücke an Hitlers Besuch in Lage Revue passieren. Die Aufnahme habe er vor einigen Jahren für den Lippischen Heimatbund angefertigt, erzählt er.

&bdquo;Am Tag meines Zahnarztbesuchs sind ganz viele Männer in braunen Uniformen die Eichenallee entlang in Richtung Jahnplatz marschiert. Auch eine Musikkapelle war dabei", sagt der 97-Jährige, zieht die Augenbrauen hoch und zeichnet dann mit seinen Händen eine lange Gerade in die Luft, um den Marschweg der SA-Leute anzudeuten. &bdquo;Ich selbst und auch meine Eltern waren ganz überrascht von diesem Auflauf. Zu der Veranstaltung gab es auch Reklame in der Landes-Zeitung, unter der Überschrift ,Hitler geht auf die Dörfer."

Mit zittriger Hand klaubt Schlichting einige Papiere von dem vollgepackten Wohnzimmertisch und bringt so einige historische Zeitungsberichte zum Vorschein. Hitler selbst sei ihm nie unter die Augen gekommen, sagt der gebürtige Lagenser, der heute im St. Loyen Betreuungszentrum in Lemgo lebt: &bdquo;Als die Kundgebung lief, lag ich längst zu Hause im Bett."

Unfreiwillige Aufgabe der Ausbildung Doch dem NS-Regime habe sich Schlichting nicht entziehen können. Um seine mittlere Reife erlangen zu dürfen, sei er zwangsweise der Hitlerjugend beigetreten. Mit 18 Jahren ist er zum Militärdienst eingezogen und zum Funker ausgebildet worden. Seine begonnene Ausbildung im Textilwarenhandel habe er unfreiwillig aufgeben müssen.

Hans-Joachim Schlichting hat als Gefreiter der Wehrmacht für eine Sache gekämpft, mit der er sich nicht identifiziert habe. Es sei ihm aber nichts anderes übrig geblieben: Kriegsdienstverweigerer seien sofort ins Konzentrationslager gekommen. &bdquo;Ich bin nur dankbar, dass ich unverletzt aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt bin", sagt Schlichting. Und wenn er heutzutage beim Zahnarzt auf dem Stuhl sitzt, kann sich Hans-Joachim Schlichting sicher sein, dass dieser wirklich nur weiße Hosen unter seinem Kittel trägt.

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