Oerlinghausen. Es gibt Denkmale und offizielle Gedenktage, die an den Zweiten Weltkrieg erinnern. Auch in der Schule steht die Zeit des Nationalsozialismus auf dem Lehrplan. Aber was weiß man über die Opfer? Die Bildungsstätte St.-Hedwigs-Haus in Oerlinghausen hat sich in drei Seminaren mit der Geschichte der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter in Ostwestfalen-Lippe befasst. Jetzt wurden die Ergebnisse im Gemeindezentrum St. Michael öffentlich vorgestellt. Die Seminarreihe habe unerwartet eine aktuelle Bedeutung erlangt, sagte Nike Alkema, die Direktorin der Heimvolkshochschule. „Wir verheerend es ist, wenn Geschichte umgedeutet wird, erleben wir derzeit", sagte sie. Wenn Putin den Überfall auf die Ukraine lediglich als Spezialoperation und Befreiung bezeichne, missbrauche er seine Deutungshoheit. Wissenschaftliche Studie Das Oerlinghauser Projekt erhielt dafür eine Förderung von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) und reiht sich in eine wissenschaftliche Studie ein. Bereits seit vier Jahren wird an der Universität Bielefeld untersucht, was die Deutschen mit dem Nationalsozialismus verbinden. Als Mitglied des Forschungsteams erläuterte Michael Papendick, die jüngste repräsentative Befragung. So gab der weitaus überwiegende Teil der 1000 Befragten an, dass das Wissen über die NS-Zeit einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert besitzt. Unter den Opfergruppen wurde an erster Stelle Menschen jüdischen Glaubens sowie Angehörige der Sinti und Roma genannt. Nur zwei Mal wurden auch Zwangsarbeiter angeführt. Den allermeisten Befragten war somit nicht bewusst, dass im Deutschen Reich bis zu 13 Millionen Menschen Zwangsarbeit leisten mussten. Verklärendes Bild Ein verklärendes Bild ergab sich auch, als nach der Rolle der eigenen Familie gefragt wurde. 81 Prozent gaben an, ihre Vorfahren hätten weder von Zwangsarbeit gewusst noch davon profitiert. „Diese Verzerrung hat uns überrascht", stellte Papendick fest. Oliver Nickel, Geschäftsführer der Gedenkstätte Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock, ergänzte: „In Oerlinghausen hat jeder zweite Hof oder Betrieb Zwangsarbeiter beschäftigt. Das ist kaum bekannt." Auch in der Bergstadt habe es mehrere kleine Lager für Kriegsgefangene gegeben, im Deutschen Reich insgesamt 40.000. Deshalb habe die Gedenkstätte den Auftrag, darüber aufzuklären. In der Senne waren 300.000 sowjetische Soldaten gefangen, 65.000 von ihnen starben durch massive Gewalt, Unterernährung und fehlende Hilfeleistung. Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ist wichtig Als eine mögliche Ursache für die Lücken im kollektiven Gedächtnis nannte Papendick: „Bestimmte historische Ereignisse werden in den Familien nicht erzählt oder nicht erfragt." Dabei halten junge Erwachsene die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für notwendig. Für 57 Prozent der befragten 16- bis 25-Jährigen – weitaus mehr als der Anteil der Allgemeinbevölkerung – ist dies wichtig. „Doch es ist immer schwer, wenn es um Konsequenzen geht", meinte der Wissenschaftler. „Es besteht eine Diskrepanz zwischen Einstellung und Verhalten. Es heißt noch lange nicht, dass wir für unsere Überzeugung auch Verantwortung übernehmen." Video dokumentiert Erfahrungen Einen Schritt in diese Richtung unternahm das St.-Hedwigs-Haus mit den mehrtägigen Seminaren. Vlada Safraider, Historikerin und Leiterin der Reihe, stellte fest: „In der politischen Bildung geht es nicht ohne Biografiearbeit." Zu diesem Zweck hat der Medienpädagoge Frank Spreen-Ledebur mit den Seminarteilnehmern ein Video gedreht, in dem sie über ihre persönlichen Erfahrungen berichten konnten. Während der anschließenden Diskussion wurde auf die zunehmende Bedeutung der digitalen Medien hingewiesen. Auch den Schulen wurde nach wie vor eine Verantwortung für die Erinnerungskultur zugewiesen. Lokale Anknüpfungspunkte gebe es sicher auch in Oerlinghausen, meinte Papendick.