Lügde-Elbrinxen. Vor Wochen nur ein kleines Dorf im lippischen Südosten, heute Schauplatz tausendfachen Kindesmissbrauchs – und Beispiel eines totalen Behördenversagens.
Über etliche Jahre hinweg soll der 56-jährige Dauercamper Andreas V. auf dem Campingplatz „Eichwald" mindestens 31 Kinder sexuell missbraucht und für den Dreh von Kinderpornos benutzt haben – dabei hatte er Unterstützer, allen voran laut Staatsanwaltschaft Mario S. (34). Erst nach und nach kommt das ganze Ausmaß des Skandals ans Licht. Schon viel früher hatte es Hinweise gegeben.
Ein Vater und eine Mitarbeiterin des Jobcenters Lippe meldeten 2016 den Verdacht auf sexuellen Missbrauch bei der Polizei in Blomberg, doch nichts passierte. Gegen die Polizisten wird nun wegen Strafvereitelung ermittelt. Ihnen wird vorgeworfen, mit den Hinweisen nicht sachgerecht umgegangen zu sein. Seit kurzem steht fest: Ein erster Missbrauchsverdacht gegen Andreas V. ist schon auf das Jahr 2002 in einer Tabelle der Polizei Lippe vermerkt. Warum die Spur damals nicht verfolgt wurde, lässt sich laut Staatsanwaltschaft nicht mehr nachvollziehen. Einen weiteren Hinweis hatte es 2008 gegeben.
Der mutmaßliche Kinderschänder konnte unbehelligt mit seinem Pflegekind in seiner Baracke auf dem Campingplatz hausen. Gegen zwei Mitarbeiter der Jugendämter Lippe und Hameln-Pyrmont und weitere eines Pflegekinderdienstes laufen Verfahren – sie sollen ihre Fürsorgepflicht gegenüber dem heute achtjährigen Mädchen verletzt haben.
Der Fall „Eichwald" weitet sich immer mehr zum unfassbaren Behördenskandal aus, mit dem sich inzwischen auch die Landesregierung befasst. Die Polizei in Lippe bekleckert sich dabei ganz und gar nicht mit Ruhm: Erst werden Hinweise ignoriert, dann wird ausgerechnet ein Polizeischüler mit der Auswertung der Daten beauftragt, wichtiges Beweismaterial geht verloren, und auch am Tatort selbst wird schlampig ermittelt. Dafür rollen Köpfe, Lippes Kripo-Chef und der Polizeidirektor müssen gehen. Eine anscheinend endlose Geschichte – ein Zwischenstand.
Wer ist Andreas V.?
Doch nicht unser Addy", dachten sich viele, als sie zum ersten Mal von den schweren Missbrauchsvorwürfen gegen Andreas V. hörten. Als „freundlich und hilfsbereit" wird der 56-jährige Hauptverdächtige von Nachbarn und Mitcampern beschrieben. Ein ruhiger Typ, sagt sein Umfeld. Einer, der alles für Kinder getan hätte. Ausflüge, Ponyreiten, Schwimmbadbesuche – Andreas V. schuf ein wahres Kinderparadies. Keiner schien etwas Böses zu ahnen.
„Dieser Mann muss zwei Gesichter gehabt haben", sagt ein Camper. „Er war immer so liebevoll mit den Kindern." Doch in der chaotischen Baracke am Rande des Platzes, die der Tatverdächtige seit dem Tod seiner Eltern vor zehn Jahren zerfallen ließ, soll der 56-Jährige über Jahre tausendfachen Kindesmissbrauch begangen haben. Unter den Geschädigten ist auch sein inzwischen neunjähriges Pflegekind, das der 56-Jährige als Lockvogel benutzte, um Kontakte zu anderen Kindern aufzubauen. Schon als Baby sei das Mädchen oft bei ihm gewesen, da die drogenabhängige Mutter sich nicht um ihre Tochter sorgen konnte. Seit 2016 lebte das Kind bei Andreas V., ein Jahr später gab es vom Jugendamt Hameln-Pyrmont die offizielle Pflegschaft dazu.
Trotz regelmäßiger Besuche des Familiendienstes flog der Missbrauch nie auf. Es gab wohl keine konkreten Hinweise. Im Gegenteil: Das Kind blühte förmlich auf, sagen Nachbarn und Jugendamt. Seit 30 Jahren lebt der 56-Jährige schon auf dem Campingplatz. Seine Familie stammt aus Duisburg, war früher viel mit dem Wohnmobil unterwegs und strandete letztendlich in Elbrinxen. Für die Staublunge des Vaters war das der erholsamste Ort, erzählt man sich. Die Mutter von Andreas V. wird immer wieder als gute Seele des Platzes beschrieben, die immer ein offenes Ohr hatte und mit den Kindern oft Stockbrot über dem Feuer machte. Viel Geld steckte die Familie in ihr Domizil, das nun völlig heruntergekommen ist. Eine Freundin hatte Andreas V. nie. „Mit Frauen konnte er nichts anfangen", heißt es.

Andreas V. hat mal Tischler gelernt, doch seine Lehre brach er ab, sagt ein Verwandter. Zwischendurch habe er sich im Ruhrgebiet mit Kurierfahrten über Wasser gehalten und eine Zeit lang als Lkw-Fahrer gearbeitet. Seit er auf dem Campingplatz lebt, mähte Andreas V. dort Rasen oder half mit kleineren Arbeiten.
Wer ist Mario S.?
Mario S. wird als „der große, nette Junge" beschrieben. Der 34-Jährige hatte seit etwa vier Jahren eine Parzelle am äußeren Rand des Campingplatzes „Eichwald", etwa fünf Minuten Fußweg von der Behausung von Andreas V. entfernt. „Er war sehr unauffällig", sagt Campingplatzbetreiber Frank Schäfsmeier. Ein Auto hatte Mario S. nicht, er fuhr ständig mit seinem Roller nebst Anhänger durch die Gegend – auch zu seinem 20 Kilometer entfernten Zuhause.

Zwar habe er mit Mitte 30 noch bei seinen Eltern in einem Mehrfamilienhaus in Steinheim gelebt, ein klassischer Einzelgänger sei er aber nicht gewesen, sagt eine Verwandte. Er habe soziale Kontakte gehabt und sei integriert gewesen.
Er sei „sehr einfach gestrickt", sagt die Verwandte. Er wuchs in Steinheim auf, absolvierte die Förderschule und anschließend eine staatlich geförderte Ausbildung zum Maler. Allerdings habe er niemals in dem Beruf gearbeitet. Stattdessen säuberte er in einem örtlichen Supermarkt die sanitären Anlagen, betreute Toilettenwagen und half beim Aufbau bei öffentlichen Veranstaltungen. Nach Behördenangaben war er arbeitslos. Seine Verwandte beschreibt ihn als handwerklich geschickt: „Er hat im Keller ständig Fahrräder repariert."

Eltern hätten ihre Kinder arglos zu ihm geschickt: „Er war doch nach außen immer fröhlich, wenn auch nach innen verschlossen." Auch auf dem Campingplatz zeugen etliche Fahrräder, darunter viele Kinderräder, von seinem Faible. Mit einem Aufsitzrasenmäher mit Anhänger soll er die Kinder über den Platz gefahren haben. Eine Freundin habe er nie gehabt. Dass er sich immer zu Kindern hingezogen fühlte und die sich zu ihm, hätte niemanden aufmerken lassen. Zumal er dabei niemals anzüglich geworden sei, so die Verwandte, die selbst Kinder hat. Er sei ja selbst wie ein großer Junge gewesen: „Sehr hilfsbereit – und so lieb."
Wer ist Heiko V.?
Der 48-jährige Handwerker aus Stade ist am 10. Januar 2019 in seiner Wohnung festgenommen worden. Er soll Andreas V. über das Internet kennengelernt haben. Ihm wird bisher vorgeworfen, im Jahr 2010 und 2011 an zwei Videochats teilgenommen zu haben, in denen ein zehnjähriges Mädchen missbraucht wurde. Das Kind sei ihm von Andreas V. förmlich angepriesen worden. Heiko V. bestreitet, dem Peiniger Anweisungen gegeben zu haben. Eine Einladung, nach Lippe zu kommen, um sich die Kinder anzusehen, habe er abgelehnt, es sei ihm „zu heiß" gewesen. Auch bei ihm hat die Polizei Kinderpornos gefunden.
Die übrigen Beschuldigten
Eine Person steht unter dem Verdacht der Strafvereitlung. Ihr wird vorgeworfen, zwischen Dezember und Anfang Januar Daten für den mutmaßlichen Täter Mario S. gelöscht zu haben. Außerdem wird gegen einen 16-Jährigen ermittelt, der Kinderpornos besessen haben soll, die auf dem Platz entstanden sind. Der Minderjährige stammt aus dem Umfeld des Campingplatzes. Die Ermittler prüfen, ob er selbst Opfer des Missbrauchs geworden ist.
Daneben könnten zwei Eltern von Opfern wegen Beihilfe belangt werden. Ihnen wird vorgeworfen, ihre Kinder zu Andreas V. geschickt zu haben, obwohl sie von den Missbrauchsvorwürfen gegen ihn wussten. Dieser Tatverdacht scheint sich laut aktuellem Ermittlungsstand jedoch nicht zu bestätigen. Die Staatsanwalt geht davon aus, dass das Verfahren laut aktuellem Ermittlungsstand gegen die Eltern eingestellt wird.
Kein normaler Tatort
Elbrinxen hat etwa 1200 Einwohner. Der Campingplatz „Eichwald" gehört seit 1971 fest zur Infrastruktur des Dorfes. Der Campingplatz liegt am äußeren Rand des Ortes, zwischen dem Hohen Mörth und dem Isenberg. Er hat eine Größe von etwa 100.000 Quadratmetern. Es gibt 450 Stellplätze, 200 von ihnen sind durch Dauercamper belegt. Direkt gegenüber liegt das Elbrinxer Freibad, in dem Andreas V. oft mit seiner Pflegetochter und anderen Kindern war. Im April 2018 hat es gegen einen anderen Camper eine Anzeige wegen Vergewaltigung einer 15-Jährigen gegeben.

Der Mann soll mit Mario S. befreundet sein. Die Ermittlungen wurden im Oktober 2018 eingestellt. Der Fall wird aber im Zusammenhang der Ermittlungen geprüft. Der Campingplatz befinde sich unter ständiger Aufsicht, heißt es auf dessen Website. Die Camper halten zu Betreiber Frank Schäfsmeier. „Es hat keine Abmeldungen gegeben", sagt er.
Eine Chronik des Verbrechens (zum Durchwischen)










