Chancen und Grenzen des Betreuungsrechts: Weshalb Richter oft Gummistiefel im Auto haben

Kreis Lippe. So richtig wissen, was sie hinter der Haustür erwartet, kann Michelle Wichmann nicht. Deshalb hat die Richterin am Amtsgericht Blomberg immer ein paar Gummistiefel im Auto liegen, wenn sie Hausbesuche bei Menschen macht, für die möglicherweise eine gesetzliche Betreuerin oder ein Betreuer gefunden werden muss. Von schlimm verdreckten Messie-Wohnungen bis hin zu den &bdquo;süßesten Gesprächen“ mit Menschen mit Behinderungen hat die 36-Jährige schon vieles erlebt. &bdquo;Im Betreuungsrecht lebt man als Richter seinen inneren Sozialarbeiter aus“, sagt Michelle Wichmann. &bdquo;Das ist keine Rechtsfrage, das ist pures Leben.“

Dahinter stecken tausend Gründe, weshalb Menschen einen gesetzlichen Betreuer oder eine Betreuerin an die Seite gestellt bekommen. Psychische Probleme, Krankheiten, Demenz, Sucht, verminderte Intelligenz – ganz egal, ob jung oder alt. Die Liste scheint schier endlos lang. Wenn es keinen bevollmächtigten Angehörigen gibt, der einspringen und gewisse Aufgaben übernehmen kann, kommt das Betreuungsrecht ins Spiel.

Hat die Branche ein Problem?

Etwa 6300 Menschen werden derzeit in Lippe gesetzlich betreut, schätzt Diplom-Sozialarbeiter Ralf Künne von der Betreuungsbehörde des Kreises Lippe, die im engen Austausch mit den hiesigen Amtsgerichten arbeitet. Die Zahlen steigen neuerdings weiter an, sagt Künne, allerdings gibt es zu wenige Schultern, auf die Fälle verteilt werden können. Der Kreis Lippe hat daher ein großes Nachwuchsproblem – und das, obwohl der Job so wichtig ist.

Hilfreich ist bei all den Personalsorgen natürlich weniger, wenn es dann wie im Frühjahr zu Betrugsvorwürfen gegen eine erfahrene Berufsbetreuerin aus Lippe komm t. Mehrere Monate hatte eine Detmolder Rechtsanwältin in Untersuchungshaft gesessen, bevor der Haftbefehl gegen Kaution außer Vollzug gesetzt wurde. Nun will die Staatsanwaltschaft Detmold in Kürze Anklage gegen die 57-Jährige erheben. Es geht um Betrug in Tateinheit mit Untreue sowie Unterschlagung.

Die auf Betreuungsrecht spezialisierte Juristin soll in mehren Fällen ihre Klienten ausgebeutet haben. Ist solch ein Verdacht nun die &bdquo;Ausnahme“ und sorgt er dementsprechend für ein unnötig schlechtes Image – oder hat die Branche ein ernsthaftes Problem? Ein Blick hinter die Kulissen an zwei der in Lippe agierenden Amtsgerichte in Lemgo und Blomberg zeigt, worauf es bei dem vermeintlich trockenem Thema ankommt – und wo Chancen und Grenzen des Betreuungsrechtes liegen.

Michelle Wichmann, Richterin am Amtsgericht Blomberg, kümmert sich seit acht Jahren um etwa die Hälfte der allein in Blomberg und Schieder-Schwalenberg rund 700 anfallenden Betreuungsangelegenheiten. Strafrechtliche Probleme mit Berufsbetreuern hatte die Richterin selbst nie, sagt sie. Es seien eher ehrenamtlich Agierende und verwandtschaftlich verbandelte Angehörige, die ihr eigenes Vermögen nicht klar vom Vermögen des Betroffenen trennten. Doch Familienmitglieder als Betreuer würden sowieso weniger. &bdquo;Es ist traurig zu sehen, wie viele Menschen zu Hause nicht betreut werden können“, sagt Wichmann.

&bdquo;Es ist eine rechtliche Betreuung, keine emotionale“ Am Ende eines in der Regel rund drei Monate dauernden Einleitungsverfahrens entscheidet die Richterin auf Vorschlag der Betreuungsbehörde hin immer, welcher Betreuer oder welche Betreuerin für den Betroffenen infrage kommt. &bdquo;Ich gebe mir Mühe zu schauen, ob jemand passt“, sagt Wichmann. Die richtige Mixtur aus &bdquo;Organisationsgeschick und Menschlichkeit“ sei für gute Betreuer und Betreuerinnen entscheidend. Allerdings dürfe man den Job nicht romantisieren. &bdquo;Es ist eine rechtliche Betreuung, keine emotionale.“ Viel wichtiger als Nähe sei es, ein guter Netzwerker und Behördenkenner zu sein sowie parallel jeden Menschen so nehmen zu können, wie er ist. &bdquo;Wenn Menschen das Gefühl haben, sie werden von oben herab behandelt, machen sie schnell dicht.“

Eine zuständige Betreuungsperson sitze nicht pausenlos händchenhaltend neben ihrem Klienten, sagt auch Ralf Künne, sondern erledige je nach Fall viele Sachen im Hintergrund. Manche Berufsbetreuer regelten Arzttermine, kümmerten sich um Rechnungen oder führten die nötigen Auseinandersetzungen mit Kostenträgern. Wenn bei älteren Menschen der Verbleib im Seniorenheim geregelt sei, habe man als Betreuer entsprechend weniger zu tun. Wer dazu ein gut funktionierendes Büro habe, könne mehr Fälle übernehmen.

Zu bewerten, um wie viele Betroffene sich eine gesetzlicher Betreuer oder eine Betreuerin maximal kümmern kann, ließe sich pauschal nicht so leicht beantworten, sagt Richterin Michelle Wichmann. &bdquo;Das ist schwierig, denn Berufsbetreuer sind genauso vielschichtig wie die Menschen selbst. Egal, ob altersbedingt oder krankheitsbedingt, die einzelnen Fälle lassen sich schwer über einen Kamm scheren.“

Doch irgendwann sei der Punkt erreicht, wo Berufsbetreuer nicht mehr ihrer Verantwortung nachkommen können, findet Richter Lothar Otto (59) vom Amtsgericht Lemgo. Seit dem Jahr 1998 ist Otto in der Hansestadt mit einem Kollegen für die im nordlippischen Raum anhängigen Betreuungssachen zuständig, jährlich landen rund 780 Fälle auf dem Tisch. Der Grund für ein Vierteljahrhundert Treue zum Betreuungsrecht ist schnell erklärt: &bdquo;Ich mache das, weil ich Menschen gerne helfen möchte.“ Im besten Falle sieht der Richter die entsprechende Akte daher nach der Entscheidung jahrelang nicht wieder, überprüft werde das Rechnungswesen sowieso regelmäßig durch Rechtspflegerinnen und Rechtspfleger (also Beamte im Justizdienst), die die Aufsicht über die Betreuer führen. Das ganze Prozedere werde in ein enges Korsett gepresst. Geldgeschäfte, zum Beispiel Grundstücksgeschäfte, seien genehmigungspflichtig, was wiederum Betrug bei Betreuungen erschwere. &bdquo;Die meisten arbeiten redlich“, sagt Otto.

Von etwa zehn Betreuungsrichtern im Kreis Lippe ist Lothar Otto der einzige, der in seinem Sitzungssaal eine Fallgrenze für Berufsbetreuer verhängt hat. Der Lemgoer Richter ist der Ansicht, dass ein Betreuer mit 60 Fällen gut ausgelastet ist, sagt er. Der Gesetzgeber selbst verhänge von sich aus keine Fallgrenze. &bdquo;Es gab keinen Schlüsselmoment, der mich dazu bewogen hat, der Grund war mehr eine Statistik zur Belastung von Berufsbetreuern, mit der ich mich vor Jahren auseinandergesetzt habe.“ Da die zuständige Betreuungsbehörde eh verpflichtet sei, dem Gericht Auskunft über den Arbeitseinsatz der infrage kommenden Betreuungspersonen zu erteilen, sei es nur schlüssig gewesen, seine Entscheidungen mit der entsprechenden Argumentation zu untermauern. Seit Januar 2023 muss ein Betreuungsrichter laut Otto die Belastung des Berufsbetreuers für seinen Beschluss eh berücksichtigen. Wie er das macht, entscheidet der Richter selbst.

Richter: &bdquo;Ich versuche, das Beste für meine Betreuten herauszuholen“ Natürlich gebe es Unterschiede beim Arbeitsaufwand, erst recht, wenn man das geregelte Wohnen im Pflegeheim mit den Wohnverhältnissen eines Suchtkranken vergleicht, sagt Otto. Doch jede Betreuung koste eben vor allem eins: Zeit. &bdquo;Es geht nicht ums Kaffeetrinken, sondern darum, dass mit den Leuten über die Regelung rechtlicher Angelegenheiten gesprochen werden muss.“ Allein dieser menschliche Faktor sei irgendwann nicht mehr einzuhalten, selbst wenn der selbstständige Berufsbetreuer ein Büro mit ein oder zwei Mitarbeiterinnen betreibe, die den Papierkram – zum Beispiel Überweisungen – erledigten. Irgendwann bleibe der Mensch zwangsläufig auf der Strecke. &bdquo;Manche sehen ihren Betreuer zu selten. Das geht nicht“, sagt Otto. &bdquo;Ich versuche, das Beste für meine Betreuten herauszuholen.“ Man müsse zudem aufpassen, dass sich die Betreuer nicht überfordern.

Auch im Fall um die beschuldigte Detmolder Rechtsanwältin hatte der Lemgoer Richter schon vor Jahren die Reißleine gezogen und ihr keine weiteren Betreuungsfälle zugewiesen. Mit knapp 170 Betreuten soll die beschuldigte Juristin in der Region die Fallzahlen betreffend einen fragwürdigen Rekord gehalten haben. N ach Bekanntwerden der Ermittlungen hatte die Kreis-Betreuungsbehörde kurzfristig für rund 80 betreute Personen Ersatz finden müssen, um 40 weitere Fälle musste sich die Stadt Detmold kümmern. Für die übrigen waren andere Stellen zuständig. Eine Mammutaufgabe, die sich gerade so bewältigen ließ. Und trotzdem gibt es aus Sicht der Kreis-Betreuungsbehörde keine gesicherte Formel, nach der eine Fallgrenze berechnet werden könne.

Der Lemgoer Richter hält an seinem Prinzip dennoch fest. Im Betreuungsrecht gehe es schließlich darum, die betroffenen Personen bestmöglich zu unterstützen. Hier ist ihm noch ein Aspekt besonders wichtig: &bdquo;Es geht nicht um Fremdbestimmung“, sagt Lothar Otto. Wenn sich der Betreute das 25. Katzenbuch kaufen möchte, müsse der Betreuer oder die Betreuerin das akzeptieren. &bdquo;Ich darf auch Blödsinn machen. Als Betreuer ist es nicht die Aufgabe, alles zu unterbinden, sondern die Wünsche des Betreuten festzustellen.“

Manche Erlebnisse seien dann durchaus von Erfolg gekrönt und blieben in Erinnerung. Wenn erwachsene Kinder wieder den Kontakt zum alkoholkranken Vater suchten oder eine verdreckte Wohnung wieder betretbar werde, habe man viel erreicht.

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